77 Tage
hast!«
›Das hier‹ war ein Teller. Er stand neben meinem Computer. Zwei Bananenschalen vegetierten darauf vor sich hin.
Mit einer wütenden Handbewegung fegte Mario den Teller vom Schreibtisch. Samt Bananenschalen. Ungefähr fünf Minuten dauerte Marios Anfall. Dem Teller folgten Stifte, Tesafilm, mein Locher, dessen Inhalt sich wie Konfetti verteilte. Marios Gesicht wurde hellrot. Dunkelrot. Dann violett. Vor drei Minuten ist er schließlich rausgestürmt.
Aber gerade eben hat es in der Küche gekracht. Entweder teilt weiteres Geschirr das Schicksal des Tellers oder Mario ist vor Wut geplatzt.
Ich sitze noch immer in meinem verwüsteten Zimmer vor dem Computer. Ich habe nicht nachgegeben.
Immerhin.
24.
»Auf dem Schrank im Esszimmer, in dem Muscheldöschen neben der Bibel, wie oft muss ich Ihnen das noch erklären, Frau Ali?«, brüllte eine klapprige Seniorin mit einem strengen, grauen Dutt und einer goldgerahmten Schulleiterinnenbrille auf der großen Nase.
Gülcan verdrehte die Augen, sparte es sich aber, ihren Namen zu korrigieren.
Die dominante Oma war tatsächlich mal Schulleiterin gewesen, hatte mir Gülcan verraten. Und Widerspruch von Jüngeren löste verlässlich eine Desorientierung aus, in der sich die Frau ein paar Jahrzehnte zurück in ihren Beruf fantasierte. Anstrengend für ihre Tochter, bei der sie lebte. Die hatte bei unserer Ankunft erklärt, sie bräuchte unbedingt frische Luft, und fluchtartig die Wohnung verlassen.
Die Exschulleiterin hieß Frau von Günth. Sie erwartete von ihren Pflegerinnen, dass die sich, während sie durch ihre Tour hetzten, nebenbei noch merkten, unter welchem Buch ihre Lieblingsgoldbrosche versteckt war, wie sich das Schmuckstück aufklappen ließ und dass der Name des Mannes auf dem Schwarz-Weiß-Foto Heinz-Herbert lautete. Leicht übertriebene Ansprüche an den Service, fand ich.
»Sie weigert sich, ihr Hörgerät zu benutzen«, erklärte mir Gülcan im Vorbeigehen.
»Und Sie, junge Dame, wollen Sie sich vielleicht auch endlich mal nützlich machen?!«, donnerte mich die Lehrerin so laut an, dass ich zusammenzuckte. »Ihre Aufgaben haben Sie doch noch immer nicht erledigt, nicht wahr?«
Missbilligend musterte sie mich über ihre Brille hinweg. Sie sprach mich nicht als Pflegerin an. Sie hatte erkannt, dass ich mich noch dicht am schulfähigen Alter befand, und war anscheinend in ihre Erinnerungen zurückgereist. Gut möglich, dass sie gerade überlegte, ob sie mir mit einem Rohrstock etwas mehr Fleiß beibringen sollte.
Nimm ihr Gefühl wahr und interessiere dich für sie, erinnerte ich mich an Hedis Erläuterungen zum Umgang mit Demenzkranken.
Versuchen konnte ich es ja. Den Gefühlszustand der Lehrerin zu erraten war nicht gerade schwierig. Ich zog ebenfalls ein missmutiges Gesicht und blickte streng zurück: »Haben Ihre Schüler oft ihre Aufgaben nicht erledigt, Frau von Günth?«
»Versuchen tun es doch alle! Die wollen unsereins hintergehen, wo sie können! Aber nicht mit mir!« Sie wandte den angriffslustigen Blick von mir ab und fummelte mit zittrigen Fingern an den noch offenen Knöpfen ihrer Bluse.
»Sie haben ihnen gezeigt, wo es langgeht, nicht wahr?« Ich half ihr mit den Knöpfen.
»Natürlich. Bei mir mogelt sich keiner durch, ich habe alles kontrolliert. Disziplin müssen die lernen, da fehlt es heute an allen Ecken und Enden. Vor allem bei den Türken. Disziplin ist wichtig!«, lamentierte die alte Frau, während ich sie anzog wie ein kleines Kind.
Erstaunt bemerkte ich, dass ich weiter nickend ihre strenge Miene spiegelte, obwohl ich der Ausländerfeindin gern eine reingehauen hätte. Ich hatte nicht gewusst, dass man als Pflegekraft auch Schauspieltalent benötigt. Da musste ich mich verbiegen wie eine Giraffe im Parkhaus, nur um die Oma bei ihren Erinnerungen nicht zu stören. Kein Wunder, dass die Tochter geflohen war, als wir ihr die Gelegenheit dazu gegeben hatten. Vierundzwanzig Stunden am Tag mit so einer, dagegen war ein Knastaufenthalt ein Erholungsurlaub.
Und wie fest musste sich erst Gülcan bei so einer Patientin auf die Zunge beißen?
»Meinen Sie diese Brosche, Frau von Günth?« Gülcan hielt ihr das große, goldene Stück dicht unter die Brille.
»Na, siehste, Frau Ali, geht doch!« Die Frau tätschelte Gülcan lobend die Wange.
Die Türkin lächelte freundlich.
Möglicherweise hätte die alte Ausländerfeindin ihrer Pflegekraft ein wenig mehr Höflichkeit entgegengebracht, wenn ihr die erhöhte
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