77 Tage
Todesfallzahl bewusst gewesen wäre.
Der Gedanke amüsierte mich innerlich. Es grenzte ja beinahe an Todesverachtung, die Frau derartig herunterzuputzen, von der man sich zwei Minuten später eine Injektion in den Hintern jagen ließ.
»Ein Wunder, dass die dich kein Hakenkreuz aus ihrer Schmuckschatulle fummeln lassen hat«, schimpfte ich kopfschüttelnd, kaum dass wir die Wohnung verlassen hatten.
Ich knöpfte den engen Kragen der steifen, weißen Kittelbluse auf. Vor Entrüstung war mir warm geworden: »Mit der sollten Hedi und Agi mal ein Erinnerungsalbum machen.«
»Ich möchte gar nicht wissen, was da drinstehen würde«, grinste Gülcan. »Ehrlich gesagt, möchte ich viele unserer Kunden gar nicht näher kennen. Auch wenn sie alt geworden sind, waren mit Sicherheit nicht alle Engel in ihrem Leben. Mir kann Hedi mit ihrer Biografiearbeit gestohlen bleiben. Ich muss nicht furchtbar mitfühlend auf jeden Idioten eingehen, den wir betreuen. Das mach ich bei jüngeren Menschen doch auch nicht. Ich bin höflich, mache meine Arbeit und nach einer halben Stunde bin ich wieder draußen. Ich will nicht jede Oma adoptieren, die ich betreue – und die mich auch nicht.«
Mit einer trotzigen Kopfbewegung schleuderte Gülcan ihren langen, geflochtenen Zopf nach hinten. So nüchtern hatte keine ihrer Kolleginnen ihr Verhältnis zum Job beschrieben. Der glänzend schwarze Zopf baumelte zwischen Gülcans schmalen Schultern auf den gerade aufgerichteten Rücken der Frau. Die markante Nase im orientalisch schönen Gesicht trug sie erhoben. Beinahe ein bisschen arrogant wirkte sie.
War sie eine Mörderin?
Tja, das herauszufinden war meine Aufgabe. Danner würde heute Kuchenbecker noch einmal genau unter die Lupe nehmen. Vorausgesetzt, Elsbeth van Pels feuerte ihn nicht vorher. Denn sicherheitshalber wollte Danner sich auch noch einmal erkundigen, ob unsere qualitätsbewusste Auftraggeberin womöglich irgendwelche Vorteile von den vielen Aufträgen für das Bestattungsunternehmen Schlichte hatte. Ein Präsentkorb vom Feinkostladen oder so etwas. Eine Hundert-Euro-Edelsalami pro Leiche konnte bei einem Wurstfanatiker vielleicht zum Mordmotiv werden.
Ich hatte Gülcan zu lange angestarrt, sie bemerkte meinen Blick. Weil ich meine Bluse aufgeknöpft hatte, lenkte die dicke, schwarze Schrift auf meinem Shirt ihre Aufmerksamkeit prompt auf meinen Busen.
»Liliana Ziegler«, sagte sie laut. »Du bist LilaZ?!«
Na also. War doch gar nicht so schwer gewesen.
Ich tat, als würde ich länger brauchen, um es zu checken, und sah verständnislos auf meine Brust hinab. »Woher …?«
»Du hast mir einen netten Kommentar geschrieben», nagelte mich Gülcan fest. »Zu den Selbstmorden junger Migrantinnen.«
»Ach so. Ja, das war ich«, gestand ich bereitwillig. »Dein Blog ist echt stark. Ich wünschte, ich würde meine Seite auch so hinkriegen.«
»Dein Text über die Nachteile blonder Haare ist ein ziemlich guter Anfang«, fand Gülcan.
Sieh an, sie hatte auch recherchiert.
»Ist ja ein Zufall, dass ausgerechnet ein bloggergirl unser Team verstärkt«, grübelte Gülcan.
»Der Zufall heißt Janine«, gestand ich freimütig. »Sie hat mir erzählt, dass sie bloggt, als ich mit ihr auf Tour war. Ich hab es einfach spontan ausprobiert. Ich muss mich aber noch reinfuchsen. Ich wollte deine Seite verlinken, da komm ich aber noch gar nicht klar.«
»Wie man eine Verknüpfung erstellt, kann ich dir zeigen«, bot sich die Türkin überraschend an.
»Echt?«
»Die Verweise auf andere Seiten sind das Wichtigste«, erklärte mir Gülcan. »Je mehr Seiten du verlinkst und Kommentare hinterlässt, umso mehr Menschen werden auf dich und deine Seite aufmerksam.«
Ach so. Im Klartext hieß das, ich sollte auf Gülcans Meinung verweisen.
»Wenn du willst, kannst du nach dem Dienst auf einen Kaffee mit zu mir kommen«, bot sie mir an.
Immer gern.
Gülcan bewohnte zusammen mit ihrer Tochter Selin eine Zweizimmerwohnung im Dachgeschoss eines dreistöckigen Altbaus. Ein griechischer Schnellimbiss im Erdgeschoss sorgte in dem engen, schmutzigen Treppenhaus für Knoblauchgeruch, im ersten Stock ergänzte eine Familie namens Cheng einen starken Fischduft und im zweiten Stock fügte ein ins Treppenhaus ausgelagerter Schuhschrank das Aroma von Schweißfüßen hinzu. Dicht an der Kotzgrenze, die Mischung.
Umso erstaunlicher war, dass der Gestank im Treppenhaus zurückblieb, als ich hinter Gülcan in ihre Wohnung trat. Als Geruchsbremse dienten
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