77 Tage
offenbar eine Menge getrockneter Kräuterbüschelchen, die, an den Stängeln zusammengeschnürt, die Flurwände schmückten. Thymian, Lavendel und Koriander lösten Bratenfett, toten Fisch und ungewaschene Füße ab.
Gülcan duftete wirklich nach orientalischen Gewürzen, allerdings nicht, weil sie aus Überzeugung exotische Gerichte brutzelte. Denn bis auf die Kräuterbüschelchen im Flur deutete nichts auf ein Übermaß an türkischen Traditionen hin. Die Zweizimmerwohnung hatte eigentlich nur ein Zimmer, denn an der zweiten Tür im Flur hing ein leuchtend gelbes Baustellenschild: Betreten verboten!
»Das Zimmer meiner Tochter«, sagte Gülcan, als würde das genug erklären.
»Pubertät?«, vermutete ich.
Gülcan nickte seufzend.
Damit war alles gesagt.
Bei dem zweiten Zimmer, in das Gülcan mich führte, handelte es sich also um ein Wohn-Ess-Arbeitszimmer mit Küchenzeile, Schlafcouch und einer Tür, die zum Bad führte. Im Zimmer der Türkin gab es weder bunte Teppiche noch wehende Schleier oder goldene Lampen.
Es gab gar keine Farben. Die Raufasertapeten an den Wänden waren schlicht weiß gestrichen, die Küchenzeile mit den zwei Herdplatten war elfenbeinfarben, das ausklappbare Sofa hellgrau, der große, mit losen Zetteln und Ordnern überhäufte Schreibtisch unterm Fenster weiß. Beim Parkett und einem Esstisch mit zwei Stühlen tippte ich auf Eichenholz.
Gülcans Wohnung war steril weiß. Reizarm. Von einem Künstler hatte ich mal gelesen, dass er ohne Beeinflussung durch Farben seine Werke in einem weißen Atelier entstehen ließ. Aber auch die Gummizelle in psychiatrischen Kliniken wurde wahrscheinlich weiß gehalten, um überreizte Patienten nicht zusätzlich zu verwirren.
In Gülcans Wohnung sorgte das Fehlen von Farbe dafür, dass nichts von den Bildern ablenkte.
Drei riesige, sensationell scharfe Porträtaufnahmen hinter Glas. Frauengesichter. Mit Kopftuch. Ein Teenie vor einer mit Graffiti verschmierten Fassade, eine zerknitterte Alte vor der Plakatwand einer Lippenstiftfirma, eine Dicke mit einer Ziegenherde im Hintergrund.
Keine der Frauen lächelte.
Ich überlegte, ob das eher auf ein Atelier oder auf eine Gummizelle hindeutete.
Tag 45
BELLAS BLOG:
SONNTAG, 18.34 UHR
Mit einer Sache hat Mario natürlich recht.
Ich verstehe es selbst nicht. Ein Zwei-Personen-Haushalt überfordert mich. Aber bei meiner Arbeit bin ich überkorrekt. Es ist, als gäbe es zwei verschiedene Bellas. Die ordentliche Bella geht jeden Morgen pünktlich zur Arbeit. Kümmert sich. Räumt auf. Notiert. Die faule Bella haut sich aufs Sofa. Und verteilt schimmelndes Obst im Haus.
Zurzeit muss die Ordentliche der Faulen sogar Nachrichten schreiben. Sonst hätten die beiden gar keinen Kontakt. Ist mir heute aufgefallen.
Das klingt schizophren. Ist es wahrscheinlich auch.
Aber die Ordentliche hat der Faulen tatsächlich einen Zettel hinterlassen: Neue Kaffeekanne mit zur Arbeit nehmen!
Weil die Ordentliche erst in der Umkleide ihren Dienst antritt. Und die Faule vorher keinen Gedanken daran verschwendet. An die Arbeit im Allgemeinen oder die geplatzte Dienstkaffeekanne im Besonderen.
Bei genauerer Betrachtung gibt es weitere Auffälligkeiten in meinem Verhalten. Zum Beispiel meine Unfähigkeit zu telefonieren. Das ist beinahe eine Phobie. Allerdings betrifft die Phobie nur Personen, die ich kenne. Was die Sache noch auffälliger macht.
Keinerlei Schwierigkeiten zu telefonieren hat Bella die Ordentliche. Solange ich arbeite: Ich kann bei der Apotheke Windeln bestellen oder ein Rezept vom Arzt anfordern. Oder einen Krankenwagen rufen, wenn es einem Klienten schlecht geht.
Aber meine beste Freundin anrufen, das geht nicht. Dabei tun Frauen doch nichts lieber, als stundenlang zu quatschen. Angeblich.
In der Tat kann ein Gespräch mit Sina durchaus die Zwei-Stunden-Grenze überschreiten. Was genau ich mit ihr besprechen will, brauche ich vorher nicht zu überlegen. Sina ist garantiert irgendeine Katastrophe passiert. Meine eigenen Katastrophen erscheinen mir meist nichtig. Im Vergleich zu Sinas Leben.
Zurück zu meinem Problem: Ich muss Sina nie anrufen. Ich muss nie selbst zum Hörer greifen. Das fällt mir gerade auf. Nun hat Sina aber bereits seit fünf Tagen nichts von sich hören lassen. Mal abgesehen von der SMS mit der Trauzeugenanfrage. Das gab’s noch nie. Seit zwei Tagen schleiche ich um das Telefon herum. Weil ich sie anrufen will. Denn mir fehlt ihre tägliche Katastrophe. So sehr mir die letzte
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