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77 Tage

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Titel: 77 Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucie Flebbe
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vor uns zu.
    Hedi und ich wechselten einen kurzen Blick. Erstaunlicherweise verschlechterte Hedis Outing unser Verhältnis nicht. Seit dem Gespräch im Auto hatte sie das Thema einfach abgehakt.
    Hedi zog ihre hochgezogenen Schultern noch etwas höher und drückte zum zweiten Mal die Klingel.
    Sofort ging die Tür wieder auf und die kleine Oma im Bademantel lugte hervor. Ihre in den Mund gesogenen Lippen verrieten, dass sie ihre Zahnprothese nicht trug.
    »Sau!«, beschimpfte sie uns noch einmal und ließ die Tür erneut ins Schloss krachen.
    Mit dem gezückten Schlüssel in der Hand stand Hedi neben mir.
    »Ich komme jetzt zu Ihnen herein, Frau Wilhelmi!«, rief Hedi durch die geschlossene Tür.
    »Nein!«, rief die Alte zurück.
    »Ist Ihre Tochter nicht da?«
    »Nein!«
    Hedi blinzelte irritiert, bevor sie ihre Stirn runzelte, um ihrem Gesicht einen mäßig zornigen Ausdruck zu verleihen. »Sie scheinen wütend, weil wir Ihre Wohnung betreten wollen?!«, versuchte sich die Pflegerin in die verwirrte, alte Dame hineinzufühlen.
    Offensichtlich durchlebte auch Frau Wilhelmi gerade eine Erinnerung. Keine angenehme. Was hatte sie erlebt? Ob Ähnliches wie bei der verstorbenen Frau Küppers dahintersteckte, die in ihrer Verwirrung die vor Jahrzehnten ungewollt schwangere Schwägerin als Nutte beschimpfte?
    Allmählich verstand ich, warum Hedi Spaß an der Arbeit mit den alten Menschen hatte. Langeweile kam in dem Job nicht auf.
    Hedi schüttelte den Kopf: »Ich muss jetzt wirklich hereinkommen und sehen, ob bei Ihnen alles in Ordnung ist!«
    »Nein!« Die Tür ging wieder auf und der Griff eines langen, mit Leopardenfellmuster bedruckten Regenschirms zischte an uns vorbei.
    Hedis Kopf verfehlte die Oma nur, weil sie so klein und Hedi so riesig war.
    Mit einem schnellen Griff schnappte ich nach dem Schirm, zog ihn der angriffslustigen Patientin aus der Hand und stellte einen Fuß in die Tür.
    »Ah! Du Sau! Hilfe!«, schrie die alte Frau und flüchtete in den Flur. Als wir die Tür ganz aufgeschoben hatten, sahen wir Frau Wilhelmi gerade noch mit kurzen Trippelschritten durch eine andere Tür am Flurende hinken. Auch diese Tür krachte vor uns zu.
    Hedi seufzte.
    Die Tür am Flurende schwang wieder auf. Die zahnlose, kleine Frau Wilhelmi wirbelte einen Küchenbesen über den Kopf.
    »Raus, Pack!«, schimpfte sie und trippelte uns mit wehendem Bademantel entgegen.
    Hedi guckte ebenfalls verärgert: »Ich verstehe, Sie wollen uns nicht in Ihrer Wohnung haben, Frau Wilhelmi! Wobei stören wir Sie denn?«
    »Die verdammten Bosse, die wollen keine Gewerkschaft! Die schicken mir ihre Gorillas auf den Hals, damit sie mir die Möbel zerschlagen! Aber nicht mit mir! Mit mir nicht!«
    »Diese Schweine!«, schimpfte Hedi empört mit. »Jetzt gehen wir ins Wohnzimmer und hauen mal ordentlich auf den Tisch!«
    Erstaunlicherweise ließ Frau Wilhelmi den Besen wirklich sinken und begleitete Hedi einigermaßen friedlich ins Wohnzimmer.
    Wahnsinn, wie Hedi das hingekriegt hatte. Das war eine richtige Kunst.
    Hinter mir verursachte ein Schlüssel, der im Schloss gedreht wurde, ein quietschendes Geräusch. Eine etwa Sechzigjährige steckte eine feuerrot getönte Dauerwelle aus dem Badezimmer.
    »Das wird auch Zeit!«, fuhr sie Hedi und mich wütend an. »In drei Minuten hätte ich mich bei Ihrer Chefin beschwert. Um halb neun haben Sie hier zu sein. Halb neun! Wissen Sie, wie lange ich schon im Bad festsitze?«
    Ich riss die Augen auf.
    Offenbar waren wir nicht die Einzigen, die sich vor dem Regenschirm von Frau Wilhelmi in Acht nehmen mussten.
    »Machen Sie ihr endlich das Valium fertig!«, befahl die Frau, bei der es sich anscheinend um die gesuchte Tochter der wehrhaften Seniorin handelte. »Die Packungen stehen in der Küche, auf dem Regal über dem Tisch. Machen Sie schon.«
    Hedi runzelte die Stirn. »So schwierig haben Sie sich die Pflege Ihrer Mutter nicht vorgestellt, nicht wahr?«
    Die dick getuschten Wimpern hinterließen schwarze Tupfer auf der Make-up-Schicht, als die Augen der Dauergewell ten schmal wurden. »Sie haben doch keine Ahnung!«, zischte sie Hedi an. Sie sah aus, als würde auch sie selbst am liebsten nach dem nächsten Regenschirm greifen. »Die war schon schwierig, als sie noch nicht senil war!«
    Hedi musterte die Frau nachdenklich. Die Tochter presste die Lippen so fest aufeinander, dass ihr Mund einen dünnen, von Falten umsäumten Strich bildete.
    »Sie sind nach einer halben Stunde wieder draußen. Und dann

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