77 Tage
machen Sie Feierabend und fahren nach Hause. Sie wissen doch gar nicht, wie das ist.«
»Wollen Sie vielleicht eine Runde spazieren gehen, solange wir uns um Ihre Mutter kümmern?«, schlug Hedi vor.
Die zusammengekniffenen Augen von Frau Wilhelmis Tochter wurden wieder größer.
»Manchmal hilft es«, ergänzte Hedi aufmunternd.
Ihre Worte trieben der Rothaarigen ohne Vorwarnung Tränen in die Augen.
»Es geht nicht!«, fuhr sie Hedi an, als wäre diese Schuld an ihrer Verfassung. »Ich hab es versucht, in den letzten Monaten. Aber es geht nicht! Immer soll ich mich auf Mutter einstellen. Auf ihre Gefühlslage Rücksicht nehmen. Dabei ist die launischer als eine verzogene Katze. Und wie es mir geht, interessiert keinen Menschen.«
Hedi nickte verständnisvoll.
Die Rotgefärbte wischte sich durchs Gesicht, entdeckte schwarze Schminkspuren an ihren Fingern und wurde noch wütender. Offensichtlich war sie ein ähnlich schwieriger Charakter wie ihre demenzkranke Mutter. Für ein friedliches Zusammenleben nicht die optimale Ausgangssituation.
»Lassen Sie mich einfach in Ruhe und machen Sie Ihre Arbeit!«, fauchte sie, verschwand im Bad und schloss sich ein.
»Sei so gut, Mädchen, bürste mir mal kräftig den Rücken ab, ja? Dat juckt und ich komm da einfach nicht dran.«
Wie selbstverständlich nahm Hedi die harte Wurzelbürste von der Fensterbank und fing an, dem fummelfreudigen Herrn Lauscher im Rollstuhl den Rücken zu bearbeiten.
So einen Wunsch hätte ich einem Typen, der in Anwesenheit seiner Pflegerinnen gern mal einen Steifen bekam, auf keinen Fall erfüllt.
Na ja, wenigstens war der Mann frisch geduscht und Alkohol getrunken hatte er heute wohl auch noch nicht, soweit ich das einschätzen konnte.
»Ah, das tut gut! Noch ein bisschen weiter links!«
Der weißliche Rücken des grabbelnden Großvaters färbte sich unter Hedis harten Bürstenstrichen feuerrot.
»Dass in deinen zarten Händen so viel Kraft steckt, denkt man gar nicht, Mädel.«
Hedi verdrehte die Augen.
Ich musste schmunzeln. Eindeutige nonverbale Aussage.
»Noch ein bisschen fester.«
Hedi gehorchte und versuchte, so viel Abstand wie möglich zu halten, während der Grapscher stöhnend ihre Massage genoss.
Unwillkürlich fragte ich mich, ob Hedi sich manchmal vor ihrer Arbeit ekelte. Komischer Gedanke, denn keine der anderen Pflegerinnen machte ihren Job mit solcher Begeisterung. Hedi hatte keine Berührungsängste.
Allerdings bemühte sie sich bei dem Möchtegernplayboy nicht, einen gefühlsmäßigen Gleichklang zu erzeugen wie bei der aufsässigen Frau Wilhelmi kurz zuvor. Das konnte man ja auch nicht ernsthaft verlangen.
In dem Moment klickte es in meinem Kopf. Ganz leise, als ob ein gut geöltes Schloss einschnappte.
»Und jetzt noch den Franzbranntwein ordentlich einmassieren!«, verlangte Herr Lauscher.
Auch diesen Wunsch erfüllte Hedi. Ohne Widerspruch. Ohne aufzusehen. Hatte sie den Baggerfreund im Rollstuhl überhaupt schon ein einziges Mal angesehen?
Klick.
Ich biss mir auf die Unterlippe. Was war das? Nur ein Gefühl? Oder hatte auch etwas, das nicht gesagt wurde, Bedeutung? Und wenn ja, was sagte Hedi nicht?
Klick.
Tag 56
BELLAS BLOG:
DONNERSTAG, 21.01 UHR
Ich brauche eine Therapie. Ich drehe durch. Ich glaube, ich drehe durch.
Dabei lief es mit Mario viel besser. Er hat sich wirklich bemüht. Doch ich bin immer schlechter drauf. Weil Sina mich sitzen lässt. Die blöde Kuh. Zurückgerufen hat sie bis heute nicht. Obwohl sie es versprochen hatte.
Ich hab sie auch nicht noch mal angerufen. Natürlich nicht.
Jahrelang habe ich mir die unendliche Dieter-Geschichte angehört. Ich habe ihr literweise Beruhigungstee gekocht. Und Tausende von Taschentüchern gereicht. Während sie in meine Sofakissen gerotzt hat. Und nun, wo ich mal mit ihr sprechen will? Ein Mal nur?
Geht sie ins Kino.
Am Dienstag nach der Arbeit habe ich mich in eine Decke gewickelt. Und neben dem Telefon darauf gewartet, dass es klingelt. Dass Sina sich entschuldigt. Weil sie mich wegen Dieter dem Dämlichen abserviert. Wo wir uns doch hundertmal geschworen haben, nie zur Mutti zu werden. Unsere Freundin nicht zu vergessen, nur weil wir unter der Haube sind. Sina ist noch nicht mal unter der Haube!
Wie gesagt, sie hat nicht angerufen. Trotzdem habe ich mit ihr gesprochen. In Gedanken. Ich habe den Nachmittag damit verbracht. Ich habe mir ausgemalt, wie ich sie beschimpfen werde. Wie sie in Tränen ausbricht. Und sich entschuldigt.
Um
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