8 Tage im Juni
Armgelenke klickten. Wie sie beim Abtransport die Köpfe zwischen den Händen verbargen. Wie sie sich beim Verhör herausreden wollten. Wie sie sich in ihren Aussagen verhedderten und sich gegenseitig belasteten. Wie sie in einer Zelle landeten. Und da sollten sie schmoren, nicht nur bis zu ihrer Verhandlung! Er, Lovis, würde durch seine Aussage dafür sorgen, dass sie mächtig lange weggesperrt blieben. Bezahlen sollten sie, verdammt hoch bezahlen für das, was sie ihm angetan hatten.
Aber dafür musste er normal sprechen können. Die Vorstellung, bei der Verhandlung zu stottern und dabei das hämische Grinsen seiner Peiniger zu erdulden, fand er unerträglich. Damit würden sie ihn ein zweites Mal auf die Gleise schubsen. Bildlich gesprochen. Es half nichts, er musste sich in die Fänge dieser Krumholz begeben und darauf hoffen, dass sie ihm half, das Stottern verschwinden zu lassen.
Wieder vom Laufen zurück stürzte er sich an seinen Rechner und schrieb schnell, bevor er es sich anders überlegen konnte, eine Mail an Frau Krumholz, fragte an, ob er heute Nachmittag bei ihr vorbeikommen konnte. Erst dann hörte er die zwei neuen Nachrichten auf dem Anrufbeantworter ab. Die erste war von Larissa, die mit ihm den genauen Termin für seine Reise nach Moskau festlegen wollte, um frühzeitig einen Flug für ihn buchen zu können. »Was freu ich mich auf dich, Söhnchen! Ich hab die Datscha streichen lassen, und Yuri hat einen Steg in den See gebaut. Nichts ist schöner als ein russischer Bratensommer. Bestimmt erreiche ich dich heute Abend!«
Ihre rollenden Rs machten ihn mal wieder traurig. Aber Larissa und Russland, das war eine andere Baustelle. Eine, die zurzeit weit weg war.
Die zweite Nachricht war von Sennefeld. »Ich habe schlechte Nachrichten«, begann der Polizist. »Die beiden Jungen, die du auf den Fotos erkannt hast, geben an, zur fraglichen Zeit ganz woanders gewesen zu sein. Haben Zeugen dafür. Und leider hat auch die Auswertung der Ãberwachungskameras, die uns jetzt vorliegt, nichts Verwertbares ergeben. Auf keinem der Bilder kann man einen der drei einwandfrei erkennen. Es steht also Aussage gegen Aussage. Wir sind immer noch auf der Suche nach möglichen Zeugen des Vorfalls. Aber bisher Fehlanzeige. Was ist mit dem Mädchen, das dich von den Gleisen gezogen hat? Hast du etwas von ihr gehört? WeiÃt du, wer sie ist? Sie könnte uns in der Sache wirklich weiterhelfen.«
Jenny! â Ob sie seinen Brief schon erhalten hatte?
â
Auf dem Heimweg von der Schule fand Jenny in einem neuen Sperrmüllhaufen am Bahndamm eine Metalldose mit einem Schloss. Sogar der Schlüssel steckte noch. Endlich mal wieder etwas, das sie gebrauchen konnte! Sie würde die Dose ordentlich sauber machen und darin ihr Erspartes und alles Wichtige verschlieÃen. Eine Schatzkiste, genau. Ihre Schatzkiste
Wie immer war Joe-Joe vorausgelaufen. Der bleierne Himmel, der seit den Morgenstunden auf die Stadt drückte, verfinsterte sich plötzlich. Von den Gleisen her rollten pechschwarze Wolken, gefolgt von kräftigem Donnergrollen, auf die Rote Burg zu. Blitze zuckten über den Himmel und ein stürmischer Wind wirbelte den trockenen Sand auf. Jenny klemmte sich die Kiste unter den Arm und lief los.
Der Regen setzte mit dicken Tropfen ein, als sie das Blaue Tor passierte. Die paar Meter, die sie noch bis zur Haustür laufen musste, reichten aus, um ihr die Haare an den Kopf und das T-Shirt auf die Haut zu klatschen. Ein Blick in den Briefkasten. Wieder nur Werbung. Eine Wasserspur hinter sich her ziehend, lief sie hinter Joe-Joe zur zweiten Etage hoch.
Heute wehte ihnen kein Bratkartoffelduft entgegen, die Küche war verwaist. Nachdem Jenny sich die Haare im Bad trockengerubbelt, das T-Shirt gewechselt und die Dose abgelegt hatte, fand sie Jasmin im Wohnzimmer zwischen ihren Kreuzworträtseln.
»Wer ist Lovis Urban?«, fragte Jasmin nervös und hielt Jenny einen Umschlag entgegen. »Warum schreibt er dir?«
»Keine Ahnung.« Jenny griff schnell nach dem Brief. Schwarzer Filzstift, groÃe eckige Buchstaben, eine richtige Jungenschrift.
»Mach schon auf!«, drängelte Jasmin. »Wenn du ihn nicht kennst, woher kennt er dann deine Adresse?«
In Jasmins Augen wieder Panik. Alles Fremde regte sie immer furchtbar auf.
»Hast du Oleg wegen der Waschmaschine Bescheid gegeben?«, versuchte es Jenny
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