80 Days - Die Farbe der Lust
Donnerstagabend. Die größeren Lokale der Fetischszene hatten ebenfalls alle geschlossen. Ich fand jedoch einen Link zu einem kleineren Club, der von Whitechapel mit dem Taxi gut zu erreichen war. Er warb mit einem Dungeon, offenbar großzügig angelegten »Spielwiesen« und intimer, freundlicher Atmosphäre. Das musste reichen. Der Dresscode war allerdings ziemlich streng. Da musste ich mir was einfallen lassen.
Es war inzwischen elf Uhr abends, der Spaß würde also gerade erst beginnen. Ich reservierte ein Taxi, dann durchwühlte ich meine Garderobe. Schließlich grub ich etwas aus, das mir passend erschien, zog es an und betrachtete mich im Spiegel. Es war ein hoch geschnittener, figurbetonter, marineblauer Bleistiftrock mit vorn und hinten je zwei großen weißen Knöpfen, an denen breite, im Rücken über Kreuz laufende Träger befestigt waren. Vorn verliefen sie geradewegs über meine Brüste. Ich hatte den Rock im Ausverkauf in einer Fünfzigerjahre-Boutique in North London erstanden. Anfang des Jahres hatte ich ihn mit einer hochgeschlossenen weißen Bluse, mit einer günstigen, gut erhaltenen Matrosenkappe und mit roten Wildlederpumps zum Geburtstag meiner Nachbarin getragen, die zu einer Kostümparty unter dem Motto »Uniform« eingeladen hatte.
An diesem Abend zog ich einen zu den Schuhen passenden roten BH an, ließ die Bluse aber weg. Reichte das für eine Fetischparty? Im Vergleich mit den exotischen Outfits, die ich an dem Abend mit Charlotte gesehen hatte, eher nicht. Wenn ich mich dort möglichst unauffällig einfügen wollte, war weniger wohl mehr. Nach einem weiteren Blick in den Spiegel legte ich den BH ab. Die Träger des Rocks drückten fest auf meine Brüste, hielten sie an Ort und Stelle und bedeckten meine Brustwarzen. Und hatte ich nicht ohnehin schon den größten Teil des Tages nackt verbracht?
Im Taxi trug ich zwar eine Jacke, doch beim Gedanken, dass ich darunter halb nackt war, fühlte ich mich wie eine Rebellin.
Ein freundliches junges Mädchen mit dunklen Haaren und gepiercter Nase kassierte am Eingang des Clubs das geringe Eintrittsgeld. Als sie meinen Arm nahm, um mir den Stempel auf die Hand zu drücken, bemerkte ich, dass sie unter ihrem linken Auge ein Tattoo in Form einer winzigen Träne hatte. Welche anderen Geheimnisse mochte sie unter den langen Ärmeln ihrer Latex-Smokingjacke verbergen?
Latex. Vielleicht sollte ich sparen und mir ein Latex-Teil zulegen, wenn ich öfter in solche Clubs gehen wollte. Doch ich bezweifelte, dass glänzendes Gummi so ganz mein Ding war. Charlotte hatte sich ganz schön abmühen müssen, um sich in ihr Kleid hinein- und wieder herauszuwinden, und bei meiner Veranlagung und meinen Gelüsten war rasches Ausziehen angesagt.
Neue, unklare Situationen erlebe ich eigentlich am liebsten nüchtern, aber diesmal gönnte ich mir eine Ausnahme und machte erst einmal einen Abstecher an die Bar, wo ich mich in Ruhe umsehen konnte.
Mit einer perfekt gewürzten Bloody Mary in der Hand überquerte ich dann die kleine Tanzfläche, auf der nur einige Gäste plaudernd herumstanden, und ging in den Dungeon – ein Raum neben der Bar, ohne Tür, zur Tanzfläche mit grünen Krankenhaustrennwänden abgeschirmt. Interessant.
Hier hatte sich der Großteil der Gäste versammelt. Einige saßen am Rand und redeten leise; andere standen näher am Geschehen, hielten jedoch Abstand zu den Aktiven. An den Wänden hingen auf schlichtes A 4-Papier gedruckte Regeln. »Bitte nicht stören!«, stand auf einem und auf einem anderen nur zwei Wörter: »Erst. Fragen!« Als ich das las, fühlte ich mich seltsam geborgen.
Mehrere Paare und ein Trio von »Spielern« gaben sich unter Zuhilfenahme verschiedener Gerätschaften Akten von Gewalt in unterschiedlicher Intensität hin – einvernehmlich, wie ich vermutete. Meine Aufmerksamkeit wurde sofort von den Geräuschen in den Bann gezogen, dem regelmäßigen dumpfen Knallen eines Stocks, dem weicheren Klatschen eines mehrsträngigen Floggers. Ihr Klang und Rhythmus änderten sich ständig, je nachdem, welche Bewegungen die Schlagenden ausführten und mit welcher Leidenschaftlichkeit sie ihre Aufgabe erfüllten.
Es war mir nicht einmal aufgefallen, dass ich dem Trio sehr nahe gekommen war. Erst hielt ich sie für drei Männer, doch dann stellte ich fest, dass ich die dritte Person, die von den beiden anderen geschlagen wurde, wegen ihrer kantigen Formen und des komplett rasierten Schädels falsch eingeordnet hatte. Ich sah die
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