80 Days - Die Farbe des Verlangens: Band 4 Roman (German Edition)
geprobt.
Summer entlockte ihrer Geige lang gezogene, schwermütige Klänge. Sie spielte das »Lied vom traurigen Sonntag«, jene melancholische ungarische Weise, die vermutlich schon die Begleitmusik zu unzähligen Selbstmorden gewesen war. Ich hatte sie immer etwas düster gefunden, aber Viggo war von der Wahl begeistert gewesen. Denn so würde unser gemeinsamer »Tod« auf das Publikum vielleicht eher wie das absehbare Ende der Darbietung wirken und nicht wie ein schreckliches Bühnendrama. Die Hoffnung war, dass die Zuschauer noch eine Weile unschlüssig sitzen blieben – statt zu Hilfe zu eilen oder die Polizei zu rufen –, weil sie einen Trick vermuteten und es für cleverer hielten, so zu tun, als durchschauten sie das Ganze. Wer wollte am Ende schon der einzige Dummkopf im Publikum sein, der darauf hereingefallen war?
Wir bewegten uns im Einklang mit der Musik. Es war ein langsamer, trauriger Tanz, ein Tanz von Liebenden. Umeinandergewunden, miteinander verschlungen wie zwei Stränge eines einzigen Seils, spielte ich die Rolle der aus tiefster Seele leidenden und klagenden kleinen Frau. Er war der starke Mann, der meine anmutige, biegsame Gestalt über die Bühne schob und sie in alle Richtungen drehte, damit auch wirklich jeder Zeuge meiner Niedergeschlagenheit wurde. Sie war nicht schwer vorzutäuschen, während diese tristen Klänge wie eine Totenklage durch den Zuschauerraum hallten und mich die Angst in Fängen hielt, dass sich jeden Augenblick irgendein Fehler in Viggos Plan auftat, der dazu führte, dass man mir Chey entriss und ihn ins Gefängnis steckte oder, schlimmer noch, tötete.
Nur die Musik war zu hören. Im Publikum herrschte eine geradezu unheimliche Stille. Vielleicht hatte das Adrenalin meinen Hörsinn geschärft, oder es lag an dem zusätzlichen theatralischen Effekt, dass Summer die gefühlvolle Melodie live spielte und sie nicht wie gewohnt aus Lautsprechern kam. Jedenfalls gab es heute Abend rätselhafterweise weder das übliche schockierte Flüstern, noch hörte man Stühle knarren, weil Zuschauer sich die Hälse verrenkten, um besser sehen zu können. Ich hörte nicht den leisesten Atemzug.
Dabei waren alle meine Sinne hypersensibel.
Viggo hatte mir eingebläut, wie absolut unabdingbar es war, dass ich völlig normal wirkte und mich nicht anders verhielt als bei meinen sonstigen Auftritten. Er wusste, dass der Oligarch, der den heutigen Abend gebucht hatte, mich bereits in Sitges gesehen hatte, allerdings mit einem anderen Tanzpartner. Ich hoffte, Cheys Mitwirkung würde nicht noch zum Problem werden. Es kostete mich ungeheure Anstrengung, mich nicht zu verkrampfen und den Augenkontakt mit Chey zu halten, statt zu beobachten, ob sich im Publikum etwas zusammenbraute.
Summer strich mit dem Bogen über die Saiten und entlockte ihnen einen so schwermütigen, schönen Klang, dass ich die Tränen, die in mir aufstiegen, nicht zurückhalten konnte und sie mir über die Wangen rollten. Je größer meine Angst wurde, wie der Abend wohl enden mochte, umso mehr überwältigten mich meine Gefühle. Auch auf Summer war ein Scheinwerfer gerichtet, und wenn wir uns in ihre Richtung drehten, erhaschte ich hin und wieder einen Blick auf sie. Mit der Geige am Kinn stand sie aufrecht da und bot ihre Brüste und ihre Möse stolz den Blicken dar. Sie war barfuß wie ich und schien so fest zu stehen wie eine Eiche, unverrückbar und unbeugsam, als könnte keine Macht der Welt sie ins Wanken bringen. Die selbstsichere Frau, die hier vor Publikum spielte, hatte mit der schamroten Amateurtänzerin von New Orleans nichts gemein.
Chey wirbelte mich von sich weg, das Zeichen für mich, aus dem Kleid zu schlüpfen und mich nackt zu präsentieren. Auch das hatte Viggo nachdrücklich empfohlen. Der Anblick meines entblößten Körpers würde das Publikum ablenken, sollte nicht schon Summers Erscheinung ausreichend dafür gesorgt haben, dass Chey in Vergessenheit geriet. Außerdem meinte er, dass ich nackt verwundbarer wirke und man die ganze Sache daher eher für echt halten würde.
Erotische Ablenkungsmanöver gehörten zu den ältesten Tricks überhaupt, doch laut Viggo hatten Männer ein entsetzlich kurzes Gedächtnis, insbesondere, wenn sie eine nackte Frau vor sich sahen.
Das Begehren vernebelt ihnen die Sinne, erklärte er mir, und schaltet ihre Vernunft aus.
Wie Chey sich seiner Kleider entledigen sollte, war eine knifflige Frage gewesen. Ich hatte strikt abgelehnt, dass er sich mit
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