80 Days - Die Farbe des Verlangens: Band 4 Roman (German Edition)
den Fall, dass wir fliehen mussten, ich konnte einfach nicht unterscheiden, was Traum und was Wirklichkeit war.
Sirenen kamen näher, sie klangen wie kreischende Elstern. Ich hörte sie, als stünde ich am Eingang einer Höhle und lauschte dem Echo. Wieder Schritte, eine ganze Armee schien heranzustürmen.
Und dann wurde ich hochgehoben und in die Nacht hinausgetragen.
Als Nächstes hörte ich Gelächter.
»Du lieber Himmel, sie hat wohl selbst geglaubt, sie ist tot!«
Meine Lider flatterten.
Ich blinzelte.
Breit grinsend starrte Lauralynn auf mich hinunter. Mit ihrem lockeren Pferdeschwanz, der unförmigen gelben Sicherheitsweste und der dicken, dunkelgrünen Hose wirkte sie so unscheinbar, wie ich sie noch nie zuvor gesehen hatte. Ich reckte den Hals, um besser sehen zu können. Sogar ihr Schuhwerk bestand aus hässlichen, dicksohligen schwarzen Tretern. Außer unter der Dusche hatte ich sie bisher noch nie ohne Stilettos gesehen, die geradezu ihr Markenzeichen waren. Auch hatte sie kein bisschen Make-up aufgelegt, und ihr Blick wirkte müde und matt.
»Dem Himmel sei Dank«, seufzte sie, als ich den Kopf hob. »Ich hatte schon befürchtet, dass ich das Ding hier wirklich benutzen muss.«
Sie hielt einen Defibrillator hoch.
»Wo bin ich? Wo ist Chey?«
Erinnerungsfetzen an den Abend wirbelten mir chaotisch im Kopf herum, und ich schaffte es nicht, sie sinnvoll zusammenzusetzen.
»Ganz ruhig, Luba. Er ist hier, gleich neben dir, und sollte in ein, zwei Minuten aufwachen.«
Ich kämpfte mich in eine sitzende Position und schrie auf, als ich Cheys blutüberströmtes Gesicht sah. Lauralynn wischte es mit einem nassen Tuch vorsichtig sauber.
»Mach dir keine Sorgen, das ist Theaterblut. Spielzeugpistole, Platzpatronen, Theaterblut – nichts war echt.« Sie sprach mit mir wie mit einem begriffsstutzigen Kind.
Mein Schädel brummte, und mir war so schwindelig, als hätte ich eben noch in einem Karussell gesessen. Ich hatte das unbestimmte Gefühl, dass gerade etwas Wichtiges geschehen war und ich es verschlafen hatte, aber wenn ich nur angestrengt genug nachdachte, würde es mir wieder einfallen.
»Hier«, sagte Viggo und beugte sich vom Fahrersitz nach hinten. »Das hilft vielleicht.« Er drückte mir eine Flasche Wasser in die Hand.
»Was ist passiert?«, fragte ich. »Wo sind wir?«
Chey und ich lagen auf Tragbahren in einem Rettungswagen. Die kleinen Fenster waren so hoch, dass ich von der Umgebung nichts mitbekam, außer dass wir durch die Nacht fuhren und auf der Straße wenig Verkehr herrschte. Und man hörte, dass in einiger Entfernung das neue Jahr gefeiert wurde.
»Du warst voll im K-Hole«, gluckste Lauralynn.
»Was?«
Ich versuchte zu sprechen, doch meine Lippen weigerten sich, die Worte zu formen. Es war, als trennte eine Mauer meine Körperfunktionen vom Hirn.
»Wir waren etwas skeptisch, ob ihr wirklich so ohne Weiteres überzeugende Tote abgebt«, erklärte Viggo, der unterdessen angehalten hatte. »Deshalb haben wir euch außer Gefecht gesetzt. Wir haben euren Tequila mit Ketamin aufgepeppt. Gerade genug, damit ihr eine Weile unbeweglich liegen bleibt. Wir mussten Chey einweihen, um sicherzugehen, dass ihr beide keine Herzprobleme habt oder so … Ich wollte euch ja nicht wirklich ins Jenseits befördern.«
»Kannst du dich bewegen?«, unterbrach Lauralynn. »So spannend das alles auch ist, wir müssen euch beide endlich aus Dublin herausschaffen.«
Sie reichte mir einen Rucksack. Mit größter Mühe gelang es mir, die billigen stone-washed Jeans und das Metallica-T-Shirt in Übergröße herauszuziehen und überzustreifen. Converse-Sneakers, eine Baseballkappe und eine Steppjacke vervollständigten das Outfit. Ich stopfte mir die Haare unter die Kappe und hinten in das T-Shirt, bevor ich mir einen dicken grünen Schal um den Hals wand, wie ihn Touristen hier in billigen Souvenirläden kauften.
»Du warst nie schöner«, sagte Viggo, der mich kurz musterte, ehe er sich über Chey beugte.
Viggo sah aus, als hätte man ein Zelt um ein Streichholz gewickelt, denn die schlotternde Sanitäterkluft war ihm mindestens drei Nummer zu groß.
»Diese Sackhose kleidet dich«, neckte ich ihn. »So was solltest du mal auf der Bühne tragen. Die Frauen werden sich auf dich stürzen.«
Er schnaubte. »Halt die Klappe. Oder ich sehe ungerührt mit an, wie die Russen dich umbringen, wenn du das nächste Mal in die Bredouille gerätst.«
»Scheiße«, entfuhr es mir, denn jetzt fiel mir alles
Weitere Kostenlose Bücher