9 - Die Wiederkehr: Thriller
herab.
Victoria riss ihm das Blatt aus der Hand. Ihre Hände zitterten, ein Zeichen von Schwäche, das sie vor ihrem Sohn nicht verbergen konnte. Bevor sie den Inhalt des Briefes las, fiel ihr die schöne Schrift ins Auge. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie Tränen in den Augen hatte. Sie musste mehrmals kräftig blinzeln, damit sie die Buchstaben erkennen konnte. Die Ausgewogenheit der Gestaltung – gleichmäßige Seitenränder rechts wie links, Einzug der ersten Zeile und makellose Schönschrift – bekam plötzlich etwas Makabres, als Victoria den Inhalt des Briefes erfasste:
Lieber Junge, ich will dich nicht erschrecken, aber ich kann es dir unmöglich erklären. Bitte geh nicht in den Tankstellenladen von Arenas. Den Laden des Amerikaners. Du darfst ihn am 14. August 2009 nicht betreten. Ich will dir wirklich keine Angst einjagen, aber es könnte dein Todestag sein. Geh nicht da hin. Es tut mir leid, ich musste dich einfach warnen.
Victoria brach in Gelächter aus. Es klang übertrieben, fast hysterisch. So ähnlich hatte sie auch schon manchmal vor Gericht gelacht, wenn sie ihre Verachtung in Bezug auf eine Zeugenaussage zum Ausdruck bringen wollte. Es war außerdem dasselbe Lachen, das sie ausgestoßen hatte, als ihr Mann ihr – nachdem sie ihm zum x-ten Mal den nächtlichen Sex verweigert hatte, wonach sie wenige Jahre vorher noch ganz verrückt gewesen war – vorgeworfen hatte, das Interesse an ihm verloren zu haben. Amador starrte seine Frau mit aufeinandergepressten Lippen so lange an, bis sie ihre theatralische Darstellung beendete.
»Komm, Leo, steh auf«, sagte sie.
Sie wuschelte ihm durchs Haar, um ihn zum Aufstehen zu bewegen. Dann erhob sie sich, strich sich die Bluse glatt und steckte sie wieder zurück in den Rock, der ihre schmale Taille betonte. Als sie damit fertig war, packte sie Leo bei den Schultern, drehte ihn zu sich herum und kniete sich vor ihm hin, sodass ihre Augen etwa auf gleicher Höhe waren.
»Leo, was ist das?« Leo blickte sie mit großen Augen an, als hätte er nicht die Absicht zu antworten. »Das haben die Jungen aus deiner Klasse geschrieben, nicht wahr? Warum wartest du denn immer ganz alleine vor der Schule auf mich? Warum spielst du nicht mit den anderen, hm?« Sie packte ihn noch einmal an der Schulter und rüttelte ihn sanft. »Schatz, hör zu. Sollten dir diese Kinder jemals etwas antun, musst du es mir sagen. Unbedingt. Hast du gehört? Wirst du es mir sagen?«
In der anderen Hand hielt Victoria immer noch den Brief. Die Zeilen kamen ihr plötzlich so grausam vor, dass sie sich sicher war: So etwas konnte nur von einem gedankenlosen Rotzbengel stammen.
Wenn es nicht doch die Handschrift eines Erwachsenen ist, machte sich eine leise innere Stimme bemerkbar.
Auch Leo wusste, dass die Handschrift einem Erwachsenen gehörte. Darum hatte er sich beim Lesen auch so erschreckt. Denn keiner seiner Kameraden, nicht einmal der Gewiefteste, hätte die Handschrift eines Erwachsenen derart authentisch nachahmen können. Und von den älteren Schülern hätte sich niemand an einem so gemeinen Streich auf Kosten eines Jungen beteiligt, dessen einziges Verbrechen darin bestand, dass er im Turnunterricht nicht über den Bock springen konnte.
»Papa und mir kannst du immer alles sagen. Das weißt du doch, oder?«
Leo bezweifelte das.
Zuerst war Victoria sehr glücklich darüber gewesen, wie höflich und still und folgsam ihr Kind von klein auf war. Sie selbst hatte ihm erlaubt, das Licht noch lange, nachdem er ins Bett gegangen war, brennen zu lassen. Mehr als einmal hatte sie ihn dabei ertappt, wie er mit einem Buch in der Hand eingeschlafen war. Sie hatte sich in den Türrahmen gestellt und mit einem Lächeln auf den Lippen ihren siebenjährigen Sohn betrachtet, der immer noch unter seiner Buzz-Lightyear -Bettwäsche schlief, aber schon Krimis und Horrorgeschichten für Erwachsene las, oder besser gesagt verschlang, ohne jemals nachzufragen, was diese ganzen Wörter überhaupt bedeuteten. Sie hatte ihn auf die Stirn geküsst, ihn zugedeckt und das Gefühl von Überlegenheit gegenüber ihren Arbeitskolleginnen aus der Kanzlei genossen, die sich darüber beklagten, wie schwer sich ihre Kinder mit dem Lesen taten. Manchmal machte sie sich ein bisschen Sorgen, dass ein so kleiner Junge schon Romane über Serienmörder oder übersinnliche Geschichten las, aber dann dachte sie wieder, dass er sie ja sowieso lesen würde, dass er sich die Bücher notfalls hinter ihrem Rücken
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