9 - Die Wiederkehr: Thriller
formulierte die Frage aber nicht zu Ende.
Mit einem Ruck löste sie den Umschlag aus den Fingern ihres schluchzenden Kindes. Leo sog den Rotz wieder ein, der ihm bis auf die Lippen hinuntergelaufen war, und wischte sich mit dem Handrücken über die Nase. Auf seiner Zunge machte sich ein salziger Geschmack bemerkbar. Eine feuchte knittrige Stelle zeichnete sich im Stoff seiner Schlafanzughose ab.
Der Umschlag trug weder eine Briefmarke noch einen Poststempel. Keine Adresse. Und keinen Absender.
»Ein Luftpostumschlag«, dachte Victoria laut und betrachtete die blauen und roten Streifen am Rand. »Schatz, was ist das für ein Brief?«
Sie führte ihr Gesicht ganz nah an Leos heran.
Es hatte eigentlich besänftigend klingen sollen, doch die im Speichel erstickte Stimme war alles andere als das.
»Weißt du , was …?«, wollte sie ihren Ehemann fragen, aber sie kam nicht dazu. Vorne auf dem Umschlag stand mit blauem Kugelschreiber etwas geschrieben, das ihr die Sprache verschlug. Amador konnte beobachten, wie seine Frau vor Unverständnis die Augen aufriss, bevor sie mit hochgezogenen Brauen in völliger Verblüffung erstarrte. Sie reichte ihm den Umschlag, damit er es selbst lesen konnte. Vier Worte standen gut leserlich in Großbuchstaben darauf geschrieben:
AN EINEN NEUNJÄHRIGEN JUNGEN
Einen Moment lang fühlte sich Amador erleichtert. Sein Herz beruhigte sich wieder.
Es war überhaupt nichts Schlimmes. Victoria hatte wieder einmal übertrieben. Diese Botschaft war nicht nur ziemlich banal, sondern auch noch an den Falschen gerichtet. Leo war vor einem Monat gerade mal acht geworden. »Ich bin im Juni 2000 geboren, rechnen Sie es selbst aus«, hatte er schon als kleines Kind zu antworten gelernt, wenn ihn ein Erwachsener nach seinem Alter gefragt hatte, und dann erklärt, dass er gerne schon älter wäre. Amador dachte nach. Wenn der Umschlag seinen Sohn in einen solchen Panikzustand versetzen konnte, musste es damit noch etwas anderes auf sich haben.
»Woher hast du diesen Brief?«, fragte Amador, ohne eine Antwort zu erwarten. Erstaunt betrachtete er das verschreckte Gesicht seines Sohnes. Victoria hatte sich auf den Boden gesetzt und die Beine um ihren Sohn verschränkt. Sie bemühte sich, die Falten in seiner Hose glatt zu streichen, eine nervöse Geste, die sie gleich durch eine andere, für sie typische ersetzte: das Knipsen mit den Fingernägeln.
Victoria fiel auf, wie ausgeleiert Leos graue Pantoffeln waren. Sie beruhigte sich mit der Vorstellung, dass sie im Einkaufszentrum gemeinsam ein neues Paar für ihn aussuchen würden. Sobald wir die Sache mit dem Brief aufgeklärt haben, dachte sie. Ein Gedanke, der einen anderen, tiefer gehenden verbarg, den weiterzudenken sie sich aber weigerte, indem sie sich einfach Tausende von Pantoffeln in tausend verschiedenen Farben vorstellte: Ein Paar Gorillatatzen, eine Biene mit Fühlern – du hast es doch schon immer gewusst – Basketballschuhe, Stepptanzschuhe – dass mit dem Kind etwas nicht in Ordnung ist – oder Löwenpranken, die sie dann ein paar Tage später auch tatsächlich kauften.
Aufmerksamer als seinen Sohn beobachtete Amador seine Frau. Er öffnete den Umschlag und zog ein ganz normales Blatt Papier heraus, das zweimal gefaltet war. Leo schien nicht die Absicht zu haben, sich zu dem Brief zu äußern, bevor ihn seine Eltern nicht selbst gelesen hatten. Er kauerte immer noch zwischen den Beinen seiner Mutter, und der Schweiß auf seinem Rücken begann zu trocknen. Er begann zu frösteln und klapperte leise mit den Zähnen.
»Ganz ruhig«, versuchte die Mutter nicht nur ihren Sohn, sondern auch sich selbst zu beschwichtigen, und schloss ihn von hinten in die Arme.
Amador faltete das Blatt auf. Mit aufgerissenen Augen begann er zu lesen und bewegte dabei die Lippen, eine Geste, die es Victoria gestattete, in ihrem Mann ihren Sohn wiederzuerkennen, der die gleiche Angewohnheit hatte, wenn er Romane las, die keine Kinderbücher waren.
Die Veränderung in Amadors Gesicht war gewaltig. Victoria spürte, wie sich ihr Magen verkrampfte, ein Gefühl von Besorgnis, das kurz darauf in Angst umschlug.
»Liebling, was steht denn drin? Du machst mir ja Angst«, sagte sie.
»Ich weiß nicht. Leo«, wandte er sich an seinen Sohn, »wo hast du das her?«
»Um Gottes willen, Amador, gib mir jetzt den Brief!«
Amador stand auf, weil seine Knie auf dem harten Fußboden schmerzten. Er reichte seiner Frau den Brief und musterte sie aufmerksam von oben
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