9 - Die Wiederkehr: Thriller
Zeug.«
Als Andrea mit dem sprudelnden Wasserglas ins Schlafzimmer kam, war er schon eingeschlafen und schnarchte leise. Sie deckte ihm die Beine zu, öffnete das Fenster über dem Bett und ging zum Nachttisch, um das Glas abzustellen. Sie musste ein paar Blätter zur Seite schieben, die daraufhin zu Boden fielen. In der Dunkelheit versuchte sie, den Stapel wieder auf das Tischchen zu legen, aber der Platz reichte nicht aus.
Auf dem Weg zur Tür entdeckte sie das überdimensionale T-Shirt, das sie am Morgen über den Fernseher gehängt hatte. Sie beschloss, es noch einmal als Nachthemd zu benutzen. Dann zog sie die Tür hinter sich zu, knipste das Licht im Flur an und ging ins Wohnzimmer. Sie zog sich den BH aus, schlüpfte in das riesige T-Shirt, das ihr bis zu den Knien reichte, und wunderte sich ein wenig über ihre Entscheidung, den Slip anzulassen. Dann ging sie noch einmal in die Küche. Sie würde ganz sicher nicht ohne Hilfe einschlafen können. Sie suchte in Aaróns überraschend mickriger Hausapotheke nach einem Beruhigungsmittel. »Und du willst Apotheker sein?« Dieser Satz war schon zu einem Running Gag zwischen den beiden geworden. Mit dem Glas in der Hand schlenderte sie durch die Wohnung und nippte an dem Wasser, während sie die zwei kleinen Kapseln in der rechten Faust schüttelte.
Aus dem Papierstapel, den sie vom Schlafzimmer ins Wohnzimmer mitgenommen hatte, lugte ein längliches Kuvert. Sie runzelte die Stirn. Das Logo auf dem Umschlag war unverkennbar: ein großes B in den Farben Rot und Gelb. Sie setzte sich aufs Sofa, zog das T-Shirt über die angezogenen Knie und griff nach dem Umschlag.
Tatsächlich. Zwei Flugtickets. Eines war auf David Mirabal ausgestellt. Das andere auf Aarón Salvador. Kuba. Eine Woche. Abflug war am 10. Juni 2000. In weniger als einem Monat.
»Wolltest du unsere Trennung feiern oder was?«, sagte sie laut, bevor sie sich die Kapseln in den Rachen warf wie ein Indianer, der einen Kriegsschrei ausstößt. »Wie bescheuert!«, brummte sie, nachdem sie sie hinuntergeschluckt hatte.
Dabei war ihr nicht ganz klar, ob sie Aarón oder sich selbst meinte.
4
LEO
Montag, 21. Juli 2008
Als sie von ihrem Einkauf im Open nach Hause kamen, küsste Amador seine Frau, die mal wieder am Telefon hing, wie gewohnt auf den Mundwinkel.
Leo ging hinauf in sein Zimmer, um sich umzuziehen.
Dort erwartete ihn Pi, die sich genussvoll am Türrahmen rieb. Ihr Schnurren klang wie ein Motor im Leerlauf. Leo ging in die Hocke und bot ihr ein PEZ-Bonbon an, das er aus seiner Hosentasche holte. Das Tier beschnupperte es und biss hinein.
»Kirsche ist besser«, erklärte er ihr und warf seinen Rucksack neben den Schreibtisch. Dann zog er sich die Schuhe aus. »Hast du wieder auf meinen Pantoffeln rumgekaut?«
Nachdem er sich den Schlafanzug angezogen hatte, schlüpfte er in die grauen Schlappen, die er unter dem Bett fand.
Er kniete sich neben Pi, um ihn zu fragen, ob er gerne noch ein Bonbon hätte. Dabei fiel sein Blick auf eine der Seitentaschen seines Rucksacks. »Kann ich meinen Astronautenrucksack mitnehmen?«, hatte Leo seinen Vater gefragt, bevor sie in den Laden gefahren waren, um noch Milch für das Frühstück am nächsten Morgen zu kaufen. »Na klar, Commander!«, hatte sein Vater geantwortet. »Du willst dich doch auf unserem Weg durch die Stratosphäre nicht verirren.« Obwohl Leo wusste, dass die Stratosphäre fünfzig Kilometer von der Erde entfernt und nicht irgendwo beim Open war, musste er lächeln. Schon während der letzten Schultage vor den großen Ferien hatte ersich vorgestellt, der Rucksack wäre tatsächlich der eines Astronauten, und er könnte sich damit blitzschnell von der Schulbank in den Weltraum beamen. Ganz weit weg, wo ihm niemand Klebstoff auf den Stuhl schmierte und er nicht immer als Letzter ausgewählt wurde, wenn sie Mannschaften bilden sollten.
Leo musterte die linke Außentasche seines Rucksacks, die Tasche ohne Reißverschluss, auf der das große S der Aufschrift »Space Commander« aufgedruckt war. Der letzte Buchstabe, das kleine R, befand sich auf der entsprechenden Außentasche auf der anderen Seite. Aus der linken Tasche ragte nun die rot und blau geränderte Ecke eines Briefumschlags, den er noch nie gesehen hatte. Leo hatte nachmittags, wenn er von der Schule nach Hause kam, meistens keine Lust, seinen Rucksack auszuräumen. Der Inhalt der Schultasche dürfte sich seit dem letzten Schultag vor den Ferien also nicht sonderlich geändert
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