9 - Die Wiederkehr: Thriller
haben. Aber dieser Umschlag war auf jeden Fall neu.
Er streckte den Arm aus und zog den Brief heraus.
Er musste daran denken, wie ihm seine Klassenkameraden einmal einen toten Frosch in die Turnschuhe gelegt hatten. Er verspürte nun eine gewisse Erleichterung, als er den Umschlag in den Händen wog und feststellte, dass zumindest kein Tier darin stecken konnte.
Er riss ihn auf und zog ein doppelt gefaltetes Blatt Papier heraus. Wahrscheinlich wieder ein blöder Streich seiner Mitschüler. Mit der Resignation eines Kindes, das weiß, dass der Spaß immer auf seine Kosten geht, bereitete er sich innerlich auf das Schlimmste vor. Er schätzte sich sogar glücklich, dass er den Brief nicht sofort gefunden hatte, denn das hatte ihm zumindest das anfänglich unterdrückte und dann schallende Gelächter seiner Kameraden erspart. Jetzt, in seinem Zimmer, unter dem künstlichen Sternenhimmel, den sein Vater ihm geschenkt hatte, würden nur er selbst und die Bücher in seinem Regal stille Zeugen der sicher nicht letzten Demütigung des Schülers Leo Cruz sein.
Dann las er den Brief.
Es durchfuhr ihn wie ein Blitz. Kalter Schweiß bedeckte mit einem Mal seinen Körper mit einer feuchten klebrigen Schicht.
Panik überkam ihn. Sein Verstand setzte aus, er bekam kaum Luft.
Der Rest der Welt, die Geräusche, seine Mutter, die unten mit dem Telefon diskutierte, und ein Sportreporter, der sich in scharfsinnigen Kommentaren erging, drangen nur noch dumpf zu ihm herauf, als wäre alles in ein Meer aus flüssigem Glas getaucht.
Mit leerem Blick ging er zur Treppe.
Sein großer Zeh ertastete die erste Stufe.
Mit der linken Hand nestelte er nervös am Hosenbein seines Schlafanzugs. Die rechte, mit der er den Umschlag fest umklammerte, war kalt wie Stein. Langsam, fast ohne die Füße zu heben, schlich er die Treppe hinunter.
Im Wohnzimmer dröhnte der Fernseher deutlich über Zimmerlautstärke. Das ganze Haus war erfüllt von der sich überschlagenden Stimme des Sportreporters. Dagegen ankämpfend stritt sich Victoria mit einer Freundin am Telefon über Politik.
Als Leo nach einer Weile, die ihm wie eine Ewigkeit vorkam, schließlich das Erdgeschoss erreicht hatte, durchquerte er den Flur und steckte den Kopf durch den offenen Türbogen ins Wohnzimmer.
Das Gesicht des Jungen war blass. Seine schwarzen Augen mit den weit aufgerissenen Pupillen blinzelten nicht.
Leo verharrte reglos in der Tür und wartete auf die Aufmerksamkeit seiner Eltern. Er zitterte am ganzen Leib, was ihm bisher nicht mal bei den Horrorromanen passiert war, die er leidenschaftlich gerne las.
Als Victoria ihren Sohn bemerkte, stieß sie einen Schrei aus.
Der panische Ton ihrer Stimme erschreckte Marta, die in ihrer Unterhaltung mit Victoria gerade eine bestimmte politische Partei verteidigte. Victoria setzte den Anstrengungen ihrer Freundin ein jähes Ende, indem sie den Hörer einfach auf das Sofa warf und zu ihrem Kind rannte. Das unerwartete Treiben in seinem Rücken erregte nun auch die Aufmerksamkeit des Vaters, der sich in seinem Sessel herumdrehte. Seine Frau kniete vor einem apathisch wirkenden Leo, der mit leerem Blick und an seinem Hosenbein zupfend im Türbogen stand und auf das immer heftigere Rütteln und Schütteln seiner Mutter nicht reagierte. Wie in Zeitlupe stand er auf, und auf den vier Metern bis zum Türbogen konnte er die Zeit wie einen klebrigen Film auf der Haut spüren.
»Was ist denn los?«, wollte er wissen und kniete sich neben Victoria hin.
Er ergriff mit beiden Händen das Gesicht seines Sohnes, fragte sich kurz, was er tun sollte, holte dann unwillkürlich aus und verpasste ihm eine saftige Ohrfeige.
Herzlichen Glückwunsch, gratulierte er sich, jetzt bist du endgültig so geworden wie dein Vater.
Leo brach in ein lautes Schluchzen aus. Victoria ließ den angehaltenen Atem durch die Nase entweichen. Dann nahm sie ihr Kind in den Arm. Amadors Hand wurde auf Höhe der rechten Brust seiner Frau zwischen den beiden eingeklemmt. Am anderen Ende der Leitung legte Marta peinlich berührt auf.
»Leo, bitte, sag mir, was passiert ist?«
Leo blickte von einem zum andern.
In einem hilflosen Versuch, ihn zu trösten, strichen sie ihm das schweißnasse Haar aus der Stirn, zupften das Schlafanzugoberteil zurecht und zogen ihm die grauen Pantoffeln wieder an.
Während sie versuchte, die Fersen ihres Sohnes in die Pantoffeln zu schieben, entdeckte sie den feuchten Umschlag in Leos Hand.
»Was hast du …?«, begann sie,
Weitere Kostenlose Bücher