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9 - Die Wiederkehr: Thriller

9 - Die Wiederkehr: Thriller

Titel: 9 - Die Wiederkehr: Thriller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Pen , Nadine Mutz , Hanna Grzimek
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besorgen würde. Da war es doch ganz sicher besser, die Lektüre zu fördern, anstatt sie ihm zu verbieten. Sie selbst hatte nie besonders großen Gefallen am Lesen gefunden – »In meinem Leben ist kein Platz für Fiktion. Es ist schon voll mit realen Berichten über das Leben langweiliger Menschen«, klagte sie manchmal –, und am Anfang hatte sie Leos Fähigkeit bewundert, sich in eine Geschichte zu vertiefen und stundenlang über einem Buch zu verbringen, wobei er immer die Lippen mitbewegte: eine kindliche Geste auf einem Gesicht, das unverkennbar erwachsene Züge hatte. Doch vor ein paar Wochen war Victoria plötzlich dazu übergegangen, Leo um Punkt zehn Uhr das Licht auszumachen. Die Sondergenehmigung für nächtliche Lektürestunden war nicht länger gültig. Denn seit ein paar Wochen hasste Victoria alles, was Leo von den anderen unterschied. Jetzt bedauerte sie es, dass er nachmittags nicht mit seinen Klassenkameraden draußen spielte, und dass sie ihn nicht in einem Sportverein angemeldet hatte, wo er nach der Schule noch an einem Mannschaftssport teilnehmen konnte. Vielleicht hätte Leo dann weniger Interesse an mathematischen Kuriositäten wie den symmetrischen Zahlen gezeigt, sich nicht Ewigkeiten mit diesem absurden Farbwürfel aufgehalten oder mit seinem Teleskop den Himmel betrachtet, während ein heißer Sommertag nach dem anderen an ihm vorüberzog … und mit ihm seine ganze Kindheit. Victoria hatte auch längst aufgehört, sich vor ihren Anwaltskolleginnen hervorzutun. Als eine von ihnen über die Heldentaten ihres Sohnes bei einer Fußballmeisterschaft berichtete, dachte sie schweigend an ihren Sohn, der über den Schreibtisch gebeugt irgendwelche Bücher las, die ihm sein Vater geschenkt hatte, und nachts heimlich das Licht wieder anknipste, das sie ihm jetzt jeden Abend rigoros ausschaltete. Und Leo lernte den neuen, aufgesetzt freundlichen Ton in der Stimme seiner Mutter herauszuhören, die ihn dazu bringen wollte, sich in der Schule für einen Sport anzumelden, oder ihm versicherte, dass er immer auf sie zählen könne, eine Selbstverständlichkeit, derer sich Leo neuerdings nicht mehr so ganz sicher war.
    »Woher hast du diesen Brief?«, fragte Victoria noch einmal mit Nachdruck.
    »Er war in meinem Rucksack«, murmelte Leo.
    »Was soll das heißen, er war in deinem Rucksack?«, wollte Victoria wissen. »Was macht er in deinem Rucksack? Wie ist er da reingekommen?«
    Victoria, Opfer ihres eigenen Unvermögens, fing an, ihren Sohn zu schütteln. Amador musste eingreifen, und das Kind aus dem Griff seiner Mutter befreien.
    »Entschuldige, Schatz«, sagte sie. »Aber es fällt mir schwer, das alles zu verstehen.«
    Sie legte eine Hand auf Leos Brust. Da zeichnete sich ein Ausdruck der Verärgerung in ihrem Gesicht ab, und sie stand schlagartig auf.
    »Es reicht. Morgen früh werde ich mit dem Direktor sprechen«, sagte sie entschieden, ohne daran zu denken, dass Ferien waren. »Die Schule muss etwas gegen diese kleinen Monster unternehmen. Und mit deiner Lehrerin werde ich auch gleich ein Wörtchen reden, dieser Señorita Blanco. Oder wie heißt sie noch?«, wandte sie sich an Amador. »Du warst doch früher mit ihr in einer Klasse, du musst das doch wissen.«
    »Alma«, antwortete Amador, und sein Magen krampfte sich zusammen, als er an ihre gemeinsame Schulzeit dachte. »Sie heißt Alma.«
    Dann sagte er mit gedehnter Stimme:
    »Victoria, es ist Juli. Mit wem willst du denn jetzt sprechen?«
    Victoria kaute auf der Fingerkuppe ihres Zeigefingers. Sie war sich ihres Irrtums bewusst.
    »Na, dann … Dann muss ich eben die Mütter dieser Bengel zur Rede stellen. Leo, Schatz, hast du vielleicht die Telefonnummer von jemandem aus deiner Klasse?«
    Alle drei kannten die Antwort auf die Frage. Betretenes Schweigen erfüllte den Raum. Leo zog den Kopf ein und trat einen Schritt zurück, um sich von den Beinen seines Vaters zu lösen. So als wollte er ihn von der Scham befreien, die ganz allein ihm galt, dem Außenseiter der Klasse, dem Sonderling, dem es gelungen war, sich mit keinem einzigen seiner Mitschüler anzufreunden.
    »Gut gemacht, Mama«, bemerkte Amador bissig.
    Er starrte seine Frau ungläubig an. Dann ging er vor seinem Sohn in die Hocke und nahm ihn in den Arm. Leo vergrub das Gesicht in der starken Brust seines Vaters. Über die Schultern des Kindes hinweg ließen sich Amador und Victoria nicht aus den Augen. Sie legte drei Finger auf ihre Lippen, eine Geste des Bedauerns, in der

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