9 - Die Wiederkehr: Thriller
ziemlich abgewetzt dafür, dass er noch nicht einmal ein Jahr alt ist?« Leo kam seinem Vater zuvor: »Ich nehme ihn eben überallhin mit. Und die fehlende Schwerkraft spielt natürlich auch eine Rolle.« Victoria begriff nicht, warum sich Amador dabei ein Lachen verkneifen musste.
Leo kletterte auf den Rücksitz. Victoria nahm auf dem Beifahrersitz Platz. Sie steckte den Schlüssel in die Zündung. Der Schlüsselbund blieb wie ein Pendel daran hängen. Sie nahm ihre Handtasche und legte sie vorsichtig auf ihren Schoß, wobei sie besonders darauf achtete, nicht mit ihren Fingernägeln an der Feinstrumpfhose hängen zu bleiben.
Leo blickte aus dem Fenster. Seine Mutter starrte geradeaus. Sie schnippte nervös die Fingernägel gegeneinander und wartete darauf, dass Amador endlich auftauchte. Er befand sich auf dem Rückweg von einer Geschäftsreise. Als Victoria ihm am Telefon mitgeteilt hatte, dass sie den Termin beim Psychologen bekommen hatten, hatte er wie aus der Pistole geschossen erwidert: »Sag ihm, dass ich auf jeden Fall dabei sein werde.«
Der schwache, aber jetzt stete Regen schmückte den Wagen mit unzähligen kleinen Diamanten. Drinnen war nur das Prasseln der Regentropfen zu hören. Es roch nach feuchter Kleidung und Leder. Da fiel Victoria plötzlich etwas ein. Sie öffnete die rechteckige Handtasche.
»Hier, Schatz, das ist für dich. Dafür, weil du bereit bist, mitzukommen.«
Sie streckte den gebeugten Arm nach hinten und drehte ein wenig den Oberkörper und die Schultern, aber nicht weit genug, um dem Jungen ins Gesicht zu sehen. Leo nahm seiner Mutter den PEZ-Spender mit dem Kopf von Lisa Simpson ab, nachdem sie ihn zweimal ungeduldig geschüttelt hatte. Sie verharrte noch einige Sekunden in der unbequemen Haltung und wartete auf ein Dankeschön. Sie hörte, wie Leo den Spender bediente. Und dann hörte sie, wie er sich ein Bonbon in den Mund steckte und lutschte.
Am Ende des Schotterwegs tauchte ein Taxi auf. Victoria legte den Sicherheitsgurt an. Amador stieg aus und verabschiedete sich von jemandem, indem er mit den Fingerknöcheln gegen das hintere Seitenfenster des Taxis klopfte. Mit eingezogenem Kopf und einer Hand auf dem Bauch, um die Krawatte festzuhalten, schritt er durch den Regen auf den BMW zu. Als er auf den Fahrersitz kletterte und Anstalten machte, den Koffer und das Jackett auf Victorias Schoß abzulegen, zog sie die Augenbrauen hoch und nickte in Richtung Rückbank.
»Hallo, mein Junge«, sagte er und drehte sich zu Leo um. »Na, bereit?«
Leo schüttelte den Kopf und versteckte sich hinter der Kopfstütze seiner Mutter. Amador hatte ihm eigentlich beruhigend zulächeln wollen, aber er wusste nicht, ob es ihm gelungen war. Das Bild seines Sohnes auf dem Rücksitz erinnerte ihn an Leo vor zwei Jahren, als er gerade sieben geworden war.
Sie waren zusammen mit dem Auto in ein kleines Dorf an der Costa del Sol gefahren, um die Katze abzuholen, die eine alte Freundin von Victoria ihnen schenken wollte und die sie später auf den Namen Pi tauften. Während der sechsstündigen Autofahrt hatten sie die CDs gehört, die Amador in die Stereoanlage eingelegt hatte. »Muss der Sänger jetzt sterben?«, hatte Leo ihn gefragt, der aufmerksam die Texte verfolgte. »Na, wie ich sehe, fruchtet der Englischunterricht bei dir!«, hatte Amador geantwortet. »Nein, mein Lieber, das ist nur der Songtext. Im Sterben liegt nur der Mann, von dem das Lied handelt. Darum verabschiedet er sich von allen Menschen, die ihm wichtig sind«, hatte er ihm den Evergreen von Terry Jacks erklärt. Dann hatte er den Arm nach hinten ausgestreckt, um nachzuprüfen, ob sein Sohn richtig angeschnallt war. Und Leo hatte auf der Unterlippe kauend gefragt: »Papa, was glaubst du, was passiert mit uns, wenn wir sterben …? Werden wir wiedergeboren?« Bei dieser Frage verspürte Amador zum ersten Mal das flaue Gefühl im Magen, das ihn später noch so oft überkommen sollte.
Amador war als junger Mensch, als er sich gerade an der Fakultät für Mathematik einschreiben wollte, anstatt Jura zu studieren, wie sein Vater es sich wünschte, zu dem Schluss gekommen, dass es besser war, allzu große Meinungsverschiedenheiten zu vermeiden, da sie zu nichts führten. Deshalb hatte schon der enttäuschte Blick seines Vaters gereicht, um den Gedanken, Naturwissenschaften zu studieren, ein für alle Mal aus seinem Kopf zu vertreiben. Was also eine herausragende Laufbahn als Mathematikprofessor an der privaten Universität von
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