9 - Die Wiederkehr: Thriller
damit etwa David retten?
»Nein. Das weiß ich jetzt«, antwortete er ins Nichts.
Aarón stand vom Tisch auf und ließ sich aufs Sofa fallen, erschöpft und ausgehungert wie er war. Er träumte von blühenden Kamillefeldern. Mittendrin spielt ein Junge und pflückt die Blumen, um sie in seiner linken Hand zu einem Strauß zu sammeln. Erst ist es helllichter Tag, dann, als der Junge eine letzte Blume pflücken will, ist es plötzlich Nacht, und er bemerkt, dass die Stängel überall spitze, messerscharfe Stacheln haben. Seine linke Hand ist nur noch eine blutende, fleischige Masse. Der Junge beginnt zu weinen. Er reißt den Mund auf, immer weiter und weiter, bis der Kiefer nachgibt und der Kopf in zwei Teile zerbricht, so als hätte der Junge irgendwo im Nacken ein Scharnier. Im Innern des Schädels taucht eine Torte mit neun Kerzen auf. Alle Kerzen haben Gesichter und langes blondes Haar. Die Torte scheint mit dem Schädel des Jungen verbunden zu sein, dem mittlerweile ein Bart gewachsen ist. Er sitzt nur mit Unterwäsche bekleidet in einer Benzinpfütze, deren leicht gekräuselte Oberfläche in den Farben des Regenbogens schillert. Eine der Kerzen wendet ihr Gesicht Aarón zu, der seine Beine bis zum Knie in Benzin stecken sieht. Andreas brennendes Gesicht sagt zu ihm: »Es ist deine Schuld.« Sie sagt es immer und immer wieder, aber so schnell, dass er sie kaum versteht. Als er schließlich begreift, was sie ihm sagen will, ist Andrea plötzlich wieder Drea. Sie liegt nackt neben ihm am See und umarmt ihn. Und Aarón spürt, dass er sie liebt, und er bereut zutiefst, dass er sie verlassen hat. Nur dass der letzte Gedanke nicht mehr Teil seines Traums war.
Aarón schlug die Augen auf, während sich die Andrea des Traums noch am See von Arenas auf der Wiese wälzte.
Sobald er ganz wach war, war er in Gedanken sofort wieder bei den mit Namen und Zahlen beschrifteten Blättern, die auf dem Tisch verstreut lagen. So wie in der schlimmsten Zeit seines Studiums, als er nachts aus dem Schlaf hochschreckte und unmittelbar an die zuletzt gelernte Lektion denken musste. Ihm war übel, doch die schmerzhafte Leere in seinem Magen signalisierte ihm, dass er dringend etwas essen musste.
Draußen war es noch immer dunkle Nacht. Als er vom Sofa aufstand, traf ein leichter Luftzug sein schweißnasses Hemd, und er fröstelte. Der Albtraum, an den er sich schon nicht mehr erinnerte, hatte ihm den Schweiß aus den Poren getrieben.
Als ihm die kalte Luft aus dem Gefrierfach des Kühlschranks entgegenschlug, hob er die Zehen. Andrea hatte es immer wahnsinnig lustig gefunden, wie sich ihm in allen möglichen Situationen die großen Zehen aufstellten. »Da, schau, jetzt stehen sie schon wieder nach oben«, hatte sie gesagt. Er entschied sich für panierte Hähnchenbrustfilets, die in der Mikrowelle nur sechs Minuten brauchten. Der Reif, der sich auf der Packung gebildet hatte, löste sich vom Karton und fiel auf seine Füße, und das alles führte dazu, dass er Andrea so schrecklich vermisste, dass er gar nicht mehr wusste, ob es überhaupt der Hunger war, der dieses Gefühl der Leere in ihm hervorrief. Er erinnerte sich an das riesige T-Shirt, das sie bei ihm als Nachthemd benutzte, und bei dem eine Schulter immer unbedeckt blieb. Er dachte an die blonde Haarsträhne, die ihr immer ins Gesicht fiel, und an ihre mit Semmelbrösel und verquirltem Ei bedeckten Hände, wenn sie wie fast jeden Samstag, den sie gemeinsam bei ihm verbrachten, Hähnchenschnitzel machte. »Wie könnte ich meinem Lieblingsraubtier sein Lieblingsessen vorenthalten?«, hätte sie dann gesagt und sich die Strähne aus dem Gesicht gepustet, bevor sie ihm erwartungsvoll die Wange hinhielt, damit er ihr den Dankeskuss geben konnte, den sie immer bekam, wobei er sie von hinten umarmte, um sein Glied zwischen ihren Pobacken zu reiben, und sie fragte, welchen Film sie am Abend anschauen würden. Da, in diesem Augenblick, mit dem noch immer feuchten Rücken und einer nassen Socke, sehnte er diese Frau so sehr herbei wie sonst nichts auf der Welt. Plötzlich hatte aller Freiheitsdrang seinen Sinn verloren. Das Bedürfnis, etwas anderes jenseits von dem Leben mit Andrea kennenzulernen. Die Angst, eine Familie mit ihr zu gründen.
Als die Mikrowelle klingelte, kam es ihm so vor, als spielte das Gerät den Soundtrack zu seinen Gedanken, denn genau in dem Moment tauchte aus dem Meer von Traurigkeit, in das ihn ein kleines angetautes Stück Eis geworfen hatte, eine Idee
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