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9 Stunden Angst

9 Stunden Angst

Titel: 9 Stunden Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Kinnings
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Bedeutung mehr für sie. Wenn sie gekonnt hätte, hätte sie die Frau auf der Stelle umgebracht. Für eine Minute war das Verlangen, Gewalt auszuüben, so stark, dass es das schreckliche Schicksal von Sophie und Ben überlagerte. Doch dann erlosch es wieder und ließ Maggie mit der grausamen Wahrheit allein.
    Vielleicht lügt die Frau ja, versuchte sie sich einzureden. Sie wusste, dass es nicht so war.
    Sie musste hier raus. Jetzt konnte sie nachempfinden, wie George sich fühlte, wenn er im Tunnel an einem Haltesignal warten musste und von seiner Klaustrophobie überwältigt wurde.
    »Bitte lassen Sie mich durch.« Sie stand auf und versuchte sich durch das Gedränge zu schieben. Sie musste hier raus, und wenn sie deswegen erschossen wurde.
    »Bitte«, wiederholte sie mit mehr Dringlichkeit in der Stimme, als wolle sie sich im letzten Moment in einen überfüllten Zug zwängen. Als käme sie sonst zu spät. Als wäre alles normal.
    Wenn die Frau ihr eine Kugel in den Rücken jagen wollte, dann würde sie es jetzt tun.
    »Weiter vorne ist kein Platz. Sie können nirgendwohin«, sagte die Entführerin hinter ihr. Aber sie irrte sich.
    Maggie schob sich zwischen den Menschen durch, bahnte sich ihren Weg durch die am Boden sitzenden Kinder. Die Beleuchtung flackerte auf und wurde dann schwächer.
    »Das wird Ihnen auch nichts nützen!«, rief die Frau ihr nach. Die Lehrerin sprach immer noch mit den Mädchen – inzwischen ging es um Pharaonengräber – und sorgte dafür, dass sie ruhig blieben. Maggie sah bereits die offenen Türen zum nächsten Waggon vor sich. Sie musste durch diese Türen. Sie musste versuchen, irgendjemandem Bescheid zu geben. Sie konnte unmöglich einfach nur hiersitzen und zulassen, dass ihre Kinder starben.
    Dann hatte sie die Türen passiert und war immer noch am Leben. Sie war in Bewegung, das war alles, was zählte.
    »Ich muss hier durch«, sagte sie immer wieder, während sie ihren Körper durch jede Lücke zwängte, die sie entdecken konnte, und immer weiter zur Spitze des Zuges vorrückte. Sie musste die Außenwelt informieren. Überall entdeckte sie Menschen, die ihre Handys, Tablet-Computer und Laptops umklammerten, als seien es Heiligtümer. Es herrschte das völlige emotionale Chaos, die Leute weinten, kreischten und beteten, wenn sie nicht gerade Nachrichten schrieben oder mit Verwandten telefonierten. Die Kommunikation mit der Außenwelt war zum einzigen Rettungsanker geworden.
    »Bitte«, flehte Maggie eine Frau in ihrem Alter an, die ihr Blackberry umklammert hielt und aufs Display starrte, als verberge sich dahinter eine tiefere Bedeutung. »Ich muss meinem Mann eine Nachricht übermitteln.«
    Die Frau blickte mit Tränen in den Augen zu ihr auf. »Der Akku ist fast leer.«
    »Er ist der Fahrer dieses Zuges, und die Entführer haben uns unsere Kinder weggenommen und sie in den Kofferraum eines Autos gesperrt. Bei dieser Hitze werden sie sterben, wenn ich nichts unternehme.«
    »Ich habe meiner Mutter eine E-Mail geschrieben«, sagte die Frau und starrte ins Leere. »Sie wird versuchen, mich anzurufen.«
    »Aber meine Kinder werden sonst sterben«, flehte Maggie eindringlich.
    »Sie können sowieso nicht normal telefonieren, nur über das Internet.«
    »Bitte lassen Sie mich wenigstens eine Nachricht schreiben.«
    »Beeilen Sie sich«, sagte die Frau. »Und versuchen Sie, nicht so viel Akku zu verbrauchen.«
    Sie hielt Maggie das Smartphone hin, die es entgegennahm und das Browserfenster auf dem Display öffnete. Wem sollte sie schreiben? Wer war in der Lage, George rechtzeitig eine Botschaft zukommen zu lassen? Sie könnte eine Nachricht an ihre Schwester schicken, wusste deren E-Mail-Adresse aber nicht auswendig. Die Polizei, das war es. Sie musste die Polizei benachrichtigen.
    »Sind Sie fertig?«, fragte die Frau. Sie wollte ihr Heiligtum zurückhaben.
    »Wie kann ich die Polizei kontaktieren? Geht das überhaupt?«
    »Keine Ahnung. Ich weiß, dass es andere geschafft haben, die Polizei per Internet anzurufen. Allerdings habe ich keine Ahnung, wie das geht. Ich weiß es nicht, okay?« Die Frau befand sich am Rande der Hysterie. Maggie gab ihr das Blackberry zurück und murmelte: »Danke.«
    Sie sah sich um. Überall um sie herum drängten sich Fahrgäste, die Nachrichten tippten und telefonierten. Direkt neben ihr stand ein korpulenter Mann, dessen rosa Hemd Schweißflecken aufwies. Er rief in sein Handy: »Die müssen verdammt noch mal endlich was unternehmen, sonst

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