9 Stunden Angst
seiner schwarzen Cargohose waren vollgestopft mit Munition, die er nach Bedarf nachlud. Die brüderliche Zuneigung, die er George noch vor kurzem entgegengebracht hatte, war bestimmt längst verflogen. Es würde ihm unendlich leichtfallen, mit ihm das Gleiche zu tun, was er mit den flüchtenden Passagieren tat. Also hielt George den Mund, bis das Funkgerät in der Fahrerkabine wieder einmal knisternd verriet, dass man versuchte, Kontakt mit ihnen aufzunehmen. Tommy hatte es bisher ignoriert, aber jetzt hielt er inne und drehte sich zu George um.
»Tja, George, sieht so aus, als wollten sie uns einfach nicht in Ruhe lassen. Meinst du, wir sollten mit ihnen reden?«
George zuckte mit den Schultern, als wäre ihm das vollkommen gleichgültig, während er in Wirklichkeit an nichts anderes denken konnte als den Kaugummi auf dem Funkgerät. Wenn Tommy beschloss, zum Bedienpult im Fahrerhaus zu gehen, würde er ihn entdecken und merken, dass George daran herumgebastelt hatte, um den Funkkanal offen zu halten. Würde es Tommy überhaupt noch interessieren? Würde er es als weiteren Vertrauensbruch von George betrachten – den Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte – und sich an ihm rächen?
»Du gehst besser dran«, sagte Tommy, der wegen seines zerschmetterten Kiefers nur noch undeutlich sprach.
12.38 Uhr
Zug Nummer 037 der Northern Line, fünfter Waggon
»Ah, da sind Sie ja«, sagte die Entführerin, deren Gesicht im Fenster zwischen den Waggons zu sehen war.
Maggie versuchte, sich noch enger an die Trennwand in der Mitte des Waggons zu schmiegen, aber überall um sie herum drängten sich die Leute, so dass sie nicht hinter einer Sitzreihe abtauchen konnte. Sie befand sich direkt im Blickfeld der Entführerin.
»Ich hatte eigentlich Anweisung, Sie hier bei mir zu behalten. Das habe ich durch die ganze Aufregung vollkommen vergessen.« Sie klang nicht wie ein Mensch, der gerade mehrfach gemordet hatte. Maggie konnte sich nicht entscheiden, ob sie sich taub stellen oder die Frau in ein Gespräch verwickeln sollte, um vielleicht mehr über Sophie und Ben herauszufinden. Bevor sie fragen konnte, was mit ihren Kindern passiert war, kam die Frau ihr zuvor. »Das mit Ihren Kindern tut mir leid.«
»Wo sind sie?«
Maggie erschrak selbst über die Wut in ihrer Stimme. Dabei fühlte sie gar keine Wut. Sie war so zerfressen von Angst, dass sie nichts anderes mehr empfinden konnte.
»Bestimmt ist ihnen inzwischen ziemlich heiß.« Es klang so, als hätte die Frau gesagt: »Bestimmt amüsieren sie sich großartig.«
»Bitte verraten Sie mir, wo sie sind.«
»Hier im Zug sind sie jedenfalls nicht, falls Sie das dachten.«
»Sagen Sie mir, was Sie mit ihnen getan haben!« Die Stimmen im Waggon, selbst die hysterischen, verstummten, weil die Leute zuhörten und versuchten, ihrem Zwiegespräch Informationen zu entnehmen, irgendetwas, was ihnen Hoffnung versprach.
»Sie sind im Kofferraum unseres Autos auf dem Parkplatz am U-Bahnhof«, sagte die Entführerin.
Maggie war sprachlos. Die Worte der Frau vergrößerten die schreckliche Wunde in ihrem Innern. Einen Moment lang glaubte sie, sich übergeben zu müssen. Natürlich waren ihre Kinder im Kofferraum, jetzt ergab alles einen Sinn. Als die Entführer sie an diesem Morgen in Morden über den Parkplatz zum Eingang des U-Bahnhofs geführt hatten, hatte sie sich umgedreht, um nach ihren Kindern Ausschau zu halten, aber die Frau hatte ihr einen harten Gegenstand, vermutlich den Lauf ihres Schnellfeuergewehrs, in die Niere gestoßen und gezischt: »Wenn Sie nicht weitergehen, sterben die Kinder.« Also war Maggie weitergelaufen, hatte jedoch noch gehört, wie der Kofferraumdeckel zugeschlagen worden war.
»Bei dieser Hitze werden sie sterben.« Maggie sagte diese Worte automatisch, ohne sich ihres Inhalts bewusst zu sein. Doch dann ergriff eiskalter Zorn von ihr Besitz. Sie hatte George einmal während eines Streits ins Gesicht geschlagen, doch abgesehen davon nie das Bedürfnis gehabt, einem Menschen wehzutun. Gewalt überließ sie Männern. Aber nun antwortete diese Entführerin völlig ungerührt, dass sie vermutlich recht damit habe, dass die Hitze die Kinder umbringen würde. Am liebsten hätte Maggie ihr die Augen ausgekratzt. Sie überlegte sogar, ob sie es schaffen könnte, die Frau anzugreifen, sich durch die offenen Fenster in den Verbindungstüren auf sie zu stürzen und die Hände um ihren Hals zu krallen. Menschlichkeit und Regeln hatten plötzlich keine
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