9 Stunden Angst
ertrinken wir hier unten alle!« Er sprach mit irgendjemandem dort draußen. Wer auch immer es war, er konnte die Behörden über den Aufenthaltsort ihrer Kinder informieren. Maggie legte dem Mann eine Hand auf den Arm, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Sobald er ihr das Gesicht zudrehte, legte sie los.
»Ich brauche Ihre Hilfe. Ich muss der Polizei dringend eine Nachricht zukommen lassen.«
Der Mann starrte sie ausdruckslos an und sagte: »Die können uns hier unten nicht allein lassen. Irgendjemand muss kommen und uns befreien.«
»Können Sie mir helfen? Bitte!«
Ihr zweiter Versuch, zu ihm durchzudringen, brachte ihr einen verärgerten Blick ein. Der Mann drehte sich von Maggie weg und schüttelte ihre Hand ab. Sie versuchte Blickkontakt mit anderen Fahrgästen aufzunehmen. Eine Frau mittleren Alters stand mit dem Rücken an eine gelbe Stange gelehnt da. Auf ihrem Gesicht lag ein gelassener, teilnahmsloser Ausdruck. Sie hatte die Augen geschlossen und presste ein Handy an ihre Brust. Als Maggie sie mit einem »Bitte, Sie müssen mir helfen« ansprach, machte sie die Augen auf und blaffte: »Nein!«
Alle hüteten ihre Handys und Computer – die einzige Verbindung zu geliebten Menschen und Familienangehörigen – wie ihre Augäpfel, und selbst wenn es Maggie gelungen wäre, einen Fahrgast zur Herausgabe seines Handys zu bewegen, hätte sie nicht gewusst, wie sie einen Internetanruf tätigen sollte und ob ihre Nachricht bei so vielen E-Mails und Anrufen aus dem Zug überhaupt Beachtung finden würde. Bis die Polizei die Datenflut durchkämmt hatte, könnte es für Ben und Sophie zu spät sein. Aber ungefähr hundert Meter weiter vorne im Zug war George. Wenn er die Wahrheit über den Aufenthaltsort seiner Kinder erfuhr, war er nicht länger zur Kooperation mit den Entführern gezwungen und konnte vielleicht etwas unternehmen. Falls sie es nicht im Inneren des Zuges bis ganz nach vorne schaffte, würde sie aussteigen und seitlich entlanglaufen, und wenn sie es nicht schaffte, wenn sie von einem der Entführer erschossen oder angegriffen wurde, dann hatte sie wenigstens alles versucht. Der Gedanke an Ben und Sophie, wie sie am heißesten Tag des Jahres in der glühenden Hitze eines Kofferraums festsaßen, war beinahe zu viel für sie. Jede Minute, die sie damit verbrachte, ihren Leidensgenossen im Zug ein Handy abzuschwatzen, um eine Nachricht zu verschicken, die vielleicht nicht einmal gelesen wurde, war vergeudete Zeit. Sie musste zu George, und zwar sofort.
Entschlossen stapfte sie durch das Wasser auf dem Boden. Während sie sich durch die dicht gedrängten Passagiere im vierten Waggon zwängte, konnte sie durch eine der seitlichen Schiebetüren, die einen Spalt offen stand, das Wasser im Tunnel plätschern sehen.
Ein Mann in Polohemd und Stoffhose stand neben der Tür, dessen Panik sich in nervöser Energie äußerte. Als er bemerkte, wie Maggie nachdenklich nach draußen spähte, warnte er sie, dass das Gleis vermutlich immer noch unter Strom stehe. Dem Akzent nach war er Amerikaner. Tatsächlich brannte die Beleuchtung im Waggon noch, wenn sie auch nur noch ein gelbliches, beinahe sepiafarbenes Licht verbreitete. Falls Maggie sich nach draußen in den Tunnel wagte, könnte sie einen tödlichen Stromschlag bekommen.
Aber im Inneren des Zuges kam sie nicht mehr weiter. Die Menschen vor ihr standen dicht an dicht, waren von beiden Enden des Zuges vor der Gewalt der Entführer in die Mitte geflohen. Maggie blickte wieder durch die offene Seitentür, betrachtete die trüben, flackernden Lichter, die sich im Wasser spiegelten.
Als sie auf die Tür zuging, sagte der Amerikaner zu ihr: »Sie schießen auf jeden, der an der Seite des Zuges entlangklettert.« Er schien zu erwarten, dass er sie damit von ihrem Vorhaben abbrachte, doch ihr Entschluss stand fest. Sie zwängte sich durch den Spalt in der Tür und ließ sich ins Wasser gleiten, das so kalt war, dass es ihr vorübergehend den Atem raubte. Sobald sie den unebenen Boden des Tunnels unter den Füßen spürte, fing sie an, am Waggon entlang durchs Wasser zu waten. Der Abstand zwischen Zug und Tunnelwand war an manchen Stellen so gering, dass sie sich eng an die Seitenwände des Zuges pressen musste. Im Waggon hörte sie Geheul und laute Stimmen. An den Fenstern waren schmerzverzerrte, maskenhafte Gesichter zu sehen, und durch eine zerbrochene Fensterscheibe drang der Gestank nach Exkrementen. Manche Passagiere wirkten völlig ausdruckslos, als
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