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9 Stunden Angst

9 Stunden Angst

Titel: 9 Stunden Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Kinnings
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arbeitete an einem Schienenabschnitt im Depot. Die Männer lachten über irgendetwas. George hatte sich noch nie in seinem Leben so einsam gefühlt. Er kehrte ins Führerhaus zurück und schlug die J-Tür – die Tür zwischen Passagierbereich und Führerhaus – hinter sich zu. Normalerweise hätte er nun einfach dagesessen und das Kreuzworträtsel in der Gratiszeitung Metro gelöst, bis der Weichensteller ihm das Signal zum Verlassen der Halle gab. Manchmal vertrieb er sich die Wartezeit auch mit einem Spiel auf seinem Handy. Sein Handy! Warum hatte er nicht früher daran gedacht? Er griff in die Seitentasche seiner Jacke, zog sein eigenes Handy heraus und warf einen Blick darauf. Anrufen konnte er niemanden, weil er ja belauscht wurde, aber er könnte eine SMS verschicken. Nur an wen? Konnte man auch an Notrufnummern Textnachrichten versenden? Vielleicht konnte er einem Freund schreiben – zum Beispiel Dougie? Meine Frau und meine Kinder werden als Geiseln festgehalten, bitte ruf die Polizei an, aber sag den Beamten, dass sie nichts unternehmen sollen, damit die Geiselnehmer nichts merken. Dougie würde die SMS für einen schlechten Scherz halten. Und selbst wenn er ihm glaubte und Maßnahmen einleitete, könnte er damit ungewollt das Leben von Maggie und den Kindern gefährden.
    George ließ das Handy zurück in die Jackentasche gleiten und wippte nervös mit den Beinen. Seine Nerven spielten verrückt, und nur mühsam hielt er die Panik in Schach. Genauso musste sich ein Verurteilter fühlen. Nach jahrelanger Banalität und Routine passierte ihm nun etwas so Furchtbares und Einschneidendes, dass er kaum daran zu denken wagte. Egal, aus welchem Blickwinkel er seine Situation betrachtete, sie schien vollkommen aussichtslos. Die Leute, die seine Frau und seine Kinder in ihrer Gewalt hatten, waren nicht nur bewaffnet, sondern auch schlau, was viel beängstigender war. Die Polizei konnte er auf keinen Fall alarmieren, denn seit er den Mann mit seiner Tochter im Fenster gesehen hatte – ein Anblick, der ihn nie wieder loslassen würde –, wusste er mit absoluter Sicherheit, dass diese Leute seine Familie gnadenlos umbringen würden, wenn sie herausfanden, was er getan hatte.
    Der Weichensteller forderte ihn über Funk auf, bis zum Ausfahrtsignal vorzufahren. George legte die Hand an den Gashebel, drückte ihn in den Fahrmodus und lenkte den Zug langsam aus dem Depot hinaus. Als das Freigabesignal aufleuchtete, steuerte er den Zug in den U-Bahnhof Morden und hörte, wie der Funkkanal des Depots auf den Funkkanal des Liniennetzes umschaltete.
    Im Bahnhof fuhr er bis zum Haltesignal und öffnete die Türen. Normalerweise hätte er sich jetzt hinausgebeugt und den Fahrgästen beim Einsteigen zugesehen. Er beobachtete für sein Leben gern Menschen und dachte sich oft kleine Geschichten über sie aus, um die drückende Langeweile zu vertreiben. Manchmal versuchte er auch, den Namen eines Fahrgastes anhand seines Äußeren zu erraten. Bei den meisten war das gar nicht so einfach. Andere erkannte er aus einem Kilometer Entfernung – einen eindeutigen Jeremy zum Beispiel. Aber heute hatte er keinen Blick für seine Fahrgäste, sondern stand im Führerhaus und starrte auf die beiden Tunneleingänge am Ende der tiefen Betonschlucht, die den oberirdischen U-Bahnhof Morden bildete. Durch einen dieser Tunnels würde sein Zug gleich in das längste Tunnelsystem der Londoner U-Bahn eintauchen.
    George war nicht so detailversessen wie manche seiner Kollegen, doch auch er wusste, dass der von Morden nach East Finchley führende, fast dreißig Kilometer lange Northern-Line-Tunnel einer der längsten und tiefsten U-Bahn-Tunnels der Welt war. Sobald man hineinfuhr, erstarben alle Mobilfunksignale. In etwa zwei Minuten würde er ganz allein sein, dann bildete der Funkkontakt mit der Leitstelle seine einzige Verbindung zur Außenwelt. Den Funkkanal konnten die Leute, die Maggie, Ben und Sophie gekidnappt hatten, bestimmt nicht überwachen. War das seine Chance, Alarm auszulösen, sobald er das Gefühl hatte, dies gefahrlos tun zu können? Würde sich dieses Gefühl je einstellen?
    Als das Signal umsprang, drückte George auf die Knöpfe, die die Waggontüren schlossen, vergewisserte sich, dass die Kontrollleuchte aus war, und schob den Gashebel in die richtige Position. Der Zug setzte sich in Bewegung, verließ den Bahnhof und fuhr in den Schatten der Betonschlucht hinein, die zu den Tunnels führte. George zog das Handy aus der

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