9 Stunden Angst
entfernt Tausende Liter Wasser gegen das Mauerwerk drückten.
15.07 Uhr
Zug Nummer 037 der Northern Line, erster Waggon
Wasser tröpfelte durch die Wunde in seinen Mund. Es schmeckte erdig und ölig, aber auch ein wenig süß. Tommy kannte den süßlichen Geschmack von irgendwoher. Er tröstete ihn und verriet ihm, dass alles genauso war, wie es sein sollte.
»Als Sie heute Morgen aufgestanden sind«, sagte er in Georges Richtung, »waren Sie nur ein ganz normaler U-Bahn-Fahrer. Ein einfacher Mann mit einer einfachen Arbeit. Und jetzt werden Sie als Prophet sterben und wiederauferstehen.«
»Halten Sie den Mund«, erwiderte George. »Ich will es nicht hören.«
»Spüren Sie das Wasser? Es reinigt Sie von innen, heilt alle Ihre Wunden. Es ist Weihwasser, George.«
»Nein, es ist nur ganz normales Wasser. Kaltes, dreckiges Wasser.«
George hatte Angst und wusste nicht, was er sagte. Tommy verzieh ihm seine Widerworte. Ihm selbst ging das Wasser inzwischen bis zum Hals. Es fühlte sich gut an. Die Schmerzen in seinem Gesicht waren abgeklungen, und er spürte, wie die Herrlichkeit Gottes in ihn hineinströmte. Das Ende seines Leidens – des Leidens aller – stand kurz bevor. Er war eins mit sich und der Welt, und wenn er George betrachtete, wusste er, dass er sein Bruder war. Sie waren Gefährten auf ein und derselben Reise. George und er und seine Schwester Belle und sämtliche Insassen des Zuges. Sie würden alle gemeinsam sterben und in den Himmel auffahren.
15.11 Uhr
U-Bahnhof Leicester Square, Versorgungsschacht
»Kommen Sie, hauen wir ab«, gab Conor das Zeichen zum Aufbruch. Ed war froh, dass der Sprengsatz endlich präpariert war, doch sie kamen nur langsam voran, weil Conor im Gehen die Zündschnur aufrollen musste. Mit jeder verstreichenden Sekunde stieg Eds Unbehagen. Es war nicht nur der Gedanke an das Schicksal der Geiseln, der seine Übelkeit verursachte, sondern auch die dünne, abgestandene Luft im Schacht. Er hatte das Gefühl, nicht genug Sauerstoff zu bekommen.
»Können wir nicht ein bisschen schneller gehen?«
»Wir dürfen die Zündschnur nicht aus dem Sprengstoffklumpen ziehen, sonst müssen wir wieder zurück, und dafür haben wir nun wirklich keine Zeit.«
Sie marschierten weiter, bis Conor plötzlich stehen blieb.
»Was ist?«, fragte Ed.
»O nein. Scheiße.«
»Conor, was ist los?«
»Die Zündschnur ist zu Ende.«
»Und was bedeutet das?«
»Na ja, wir sind nur ungefähr fünfzig Meter vom Sprengstoff entfernt. Wenn ich den Zünder hier aufstelle und auslöse, könnte es sein, dass wir die Explosion nicht überleben.«
»Geben Sie mir den Zünder und bringen Sie sich in Sicherheit. Ich drücke auf den Knopf.«
Conor zögerte und schien ernsthaft über Eds Angebot nachzudenken. Ed streckte die Hand aus.
»Auf keinen Fall«, sagte Conor. »Sie vermasseln noch alles, Sie blinder Mistkerl.«
»Conor, ich habe den Tod Ihrer Frau verschuldet. Zwingen Sie mich bitte nicht, auch noch Ihren zu verschulden.«
»Für dieses Gerede ist es jetzt ein bisschen spät, finden Sie nicht? Außerdem wäre es nicht das erste Mal, dass ihr mich hochgehen lasst. Ich habe mich langsam daran gewöhnt.«
Ed hörte, wie Conor sich am Zünder zu schaffen machte.
»An Ihrer Stelle würde ich mich umdrehen, auf den Boden kauern und mir die Ohren zuhalten. Es nützt wahrscheinlich nicht viel, aber vielleicht ist es besser als nichts. Fertig?«
»Fertig, legen Sie los.«
Conor drückte auf den Knopf am Sprengzünder. Nichts passierte. Er versuchte es noch einmal.
Stille.
15.12 Uhr
Zug Nummer 037 der Northern Line, erster Waggon
Das Wasser plätscherte sanft gegen Georges Kinn. Er stand auf einem Sitz, und sein Kopf berührte die Decke des Waggons. Es war ihm gelungen, die Kette an der Stange nach oben zu schieben, aber sein Bein tat trotzdem weh. Die Schmerzen stachelten seine Wut an, und diese Wut war alles, was ihn durchhalten ließ und verhinderte, dass er sich der Verzweiflung hingab.
»Na los, Sie mörderisches Arschloch! Das ist Ihre letzte Chance, das Richtige zu tun!« George blieben nur noch ein paar Minuten, bevor das Wasser über seine Nase und seinen Mund steigen würde. Seine Gedanken kehrten immer wieder zu der vergeudeten Zeit zurück, zu den vielen verschwendeten Gelegenheiten, Denning zu entwaffnen oder zu töten. Nun stand er hier und musste tatenlos dem Tod entgegensehen. Es war nicht nur die Kette, die ihn fesselte, sondern auch die eigene Unzulänglichkeit, das eigene
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