9 Stunden Angst
Versagen. Er hatte sich selbst im Stich gelassen, seine Familie, die Insassen des Zuges.
Er drehte sich zur Verbindungstür um, von deren offenem Fenster nur noch wenige Zentimeter über die Wasseroberfläche ragten. Irgendwo jenseits der Tür stand seine Frau im schmutzigen Wasser, die Mutter seiner Kinder, und klammerte sich im Dunkeln an einen Handlauf.
»Maggie?«
Ihre Stimme übertönte die verzweifelten Laute der anderen Passagiere und drang klar und deutlich zu ihm herüber. »Ja, George.«
Sie hatte noch nie so verängstigt geklungen. Am liebsten hätte er geheult. Was sollte er ihr sagen? Welche Worte hatten jetzt noch eine Bedeutung? Bevor es ihm endlich einfiel, kam sie ihm zuvor: »Ich liebe dich.«
»Ja, ich liebe dich auch, Maggie. Es tut mir unendlich leid.«
»Sag so etwas nicht, George. Es ist nicht deine Schuld.«
»Doch. Ich habe dieses Unglück über uns gebracht.«
»Wir waren einfach zur falschen Zeit am falschen Ort.«
»Zur richtigen Zeit am richtigen Ort«, murmelte Denning.
Maggies Stimme klang deutlich kräftiger und emotional gefestigter, als sie sagte: »Welcher Wahn diese Leute auch zu ihrer Tat getrieben haben mag, falls es einen Gott gibt, werden sie in der Hölle schmoren!«
»Ich taufe dich im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.«
George hatte sich schon gefragt, wann Denning erneut mit seinem religiösen Gefasel anfangen würde. Eines wusste er mit absoluter Gewissheit: Selbst wenn Tommy Dennings Gott sich ihm in den letzten Minuten seines Lebens offenbart hätte, hätte er ihn verflucht. Ewige Verdammnis war ihm um Längen lieber als die Vereinigung mit einem Gott, der seinen Untertanen den Auftrag gab, einen sinnlosen Massenmord zu begehen.
»Herr unser Vater, nimm diese Seelen in dein Himmelreich auf.«
George betrachtete angewidert die mit halb geronnenem Blut verkrusteten Überreste von Dennings Gesicht. Er hatte den Kopf zur Seite geneigt und sog das letzte bisschen warmer, übelriechender Luft durch Nase, Mund und die Wunde in seiner Wange ein, während er mit dem »Allmächtigen« sprach.
»Da ist niemand, Sie bescheuertes Arschloch«, sagte George. »Niemand hört Ihnen zu.«
Denning ignorierte ihn und faselte etwas von »Auferstehung zum ewigen Leben, die dank deiner Güte gewiss ist«. George legte den Kopf in den Nacken, damit seine Ohren unter Wasser waren und er nichts mehr hören musste. So fühlt sich vermutlich ein zum Tode Verurteilter, dachte George. Man wartet auf den Moment des Todes und fürchtet die Schmerzen, die ihm vorausgehen.
Jede Hoffnung, dass die Behörden etwas unternahmen, um sie zu retten, war erloschen. Die Geräusche, die von den Insassen des Zuges herüberdrangen, waren qualvoller als alles, was George je gehört hatte. Hunderte von Menschen würden in wenigen Minuten sterben und wussten es. Auch George würde sterben. Seine Nase stieß inzwischen gegen die Waggondecke, und er musste jedes Mal abwarten, bis eine Welle vorbeigeplätschert war, bevor er atmen konnte.
Niemand kam, um sie zu retten.
George schluckte Wasser, als er in der winzigen Luftblase, die vor seinem Mund blieb, zu atmen versuchte. Er würgte, hustete, spuckte. Dabei drang noch mehr Wasser in seinen Mund ein, und er würgte erneut. Den Mund dicht an die Decke gepresst, gelang es ihm, ein wenig Luft einzusaugen, bevor ihn das Wasser von allen Seiten umschloss. Es war sein letzter Atemzug. Das Wasser, das er geschluckt hatte, löste erneut einen Würgereiz in ihm aus, aber er kämpfte gegen den Drang an, die eingesogene Luft entweichen zu lassen. Er drückte seinen Mund noch fester gegen die Decke, damit ihn der scharfe Schmerz von seiner nach Sauerstoff lechzenden Lunge ablenkte.
Niemand kam, um sie zu retten.
Wie um seinen letzten Atemzug zu unterstreichen, erlosch in diesem Moment die Taschenlampe, die Denning an den Handlauf gehängt und die während der letzten Minuten unter Wasser weitergeflackert hatte. Es wurde stockdunkel im Waggon. In Georges Kopf sang Joe Strummer zum letzten Mal »London Calling«.
15.19 Uhr
Zug Nummer 037 der Northern Line
Schweigen senkte sich auf den untergetauchten Zug herab. Einzelne Lichtquellen, die von wasserfesten Handys und Kleincomputern stammten, beleuchteten verzweifelte Gesichter und aufgeblasene Backen. Männer, Frauen und Kinder hielten die Luft an, ein letzter Versuch, das Unvermeidliche hinauszuzögern.
Es ist allgemein bekannt, dass Menschen, die große Angst empfinden, mehr Sauerstoff
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