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9 Stunden Angst

9 Stunden Angst

Titel: 9 Stunden Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Kinnings
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Geräusch war rhythmisch und erinnerte an Atemzüge …
    Varick trat näher an den Körper auf dem Boden des Waggons heran. Jetzt sah er, dass das Zischen aus Tommys zerstörtem Gesicht kam. Verursacht wurde es von seinem Atem, der durch das zerfetzte Gewebe seiner rechten Wange pfiff, während er ein Walkie-Talkie vor den Mund hielt und hineinsprach.
    Eine Bewegung am Rand seines Sichtfelds ließ Varick aufblicken. Es war der Fahrer, der den Kopf schüttelte. Nein, es war kein bewusstes Schütteln, mehr ein Zittern. Die Augen des Mannes waren weit aufgerissen und blinzelten nicht. Flehend starrte er Varick an. Sein ganzes Gesicht schien zu rufen: Vorsicht, wir sind beide in Gefahr! Varick blickte wieder auf Tommy hinunter und erschrak, als er merkte, dass ihn dieser beobachtete.
    »Varick«, sagte Tommy. Es war keine menschliche Stimme, die da röchelnd aus dem zerschmetterten, blutigen Gesicht drang. Obwohl es von unmittelbarer Dringlichkeit gewesen wäre, sich zu wehren oder in Sicherheit zu bringen, war Varick wie gelähmt von einem Gedanken, der sich ihm aufdrängte, ohne dass er irgendetwas dagegen tun konnte. Während Tommy die Waffe hob, die er in der Hand hielt, und den Schuss abfeuerte, der seinen Oberschenkel zerfetzte und ihn rücklings zu Boden warf, konnte er an nichts anderes denken: In all den Jahren, die er nun schon mit der Smith & Wesson schoss, war es das erste und einzige Mal, dass sie nicht nach rechts verzogen hatte. Das musste irgendetwas bedeuten. Irgendjemand musste die Kugel beeinflusst haben, und dieser Jemand war Gott.
    Der Schmerz war heftig, aber die Tatsache, dass er von seinem Bein ausging, machte Varick ein wenig Hoffnung. Er war noch am Leben und nur einen Schuss vom Erreichen des Ziels entfernt, zu dem er in den frühen Morgenstunden aufgebrochen war.
    Er rollte sich unter Schmerzen auf den Bauch und richtete die Smith & Wesson auf Tommy. Die Kugel musste weniger als zwei Meter zurücklegen, da war es egal, ob die Waffe nach links oder rechts verzog. Doch bevor seine Finger den Abzug betätigen konnten, traf eine Kugel aus Dennings Waffe sein Handgelenk und durchtrennte sämtliche Sehnen, die zu seinen Fingern führten. Die Smith & Wesson schlug auf dem Waggonboden auf. Der Schock und die Schmerzen, die die beiden Schussverletzungen – seine Wundmale – auslösten, lähmten Varick und ließen ihn verstummen. So musste sich Jesus auf Golgatha gefühlt haben.
    Wie eine rasende, schäumende Naturgewalt warf sich das Monster, das von Tommy Denning übrig geblieben war, auf ihn, starrte ihm drohend ins Gesicht, keuchend und Blut speiend.
    Varick rang nach Luft. Er hatte versagt. Sein Versuch, das Richtige zu tun und den größten Schaden abzuwenden, war gescheitert. Offenbar war es Gottes Wille, dass Tommy mit seinem Plan Erfolg hatte, und er würde sich diesem Willen beugen.
    Der Dämon legte die Hände um seinen Hals und drückte zu. Varick schloss die Augen und blendete ihn aus.
    »In der sicheren Gewissheit, durch unseren Herrn Jesus Christus das Geschenk des ewigen Lebens erhalten zu haben, lege ich, dein demütiger Diener Varick Mageau, meine Seele in deine …« Weiter kam er nicht, weil sein Gehirn jede Aktivität einstellte.
    12.19 Uhr
    Zug Nummer 037 der Northern Line, erster Waggon
    Die Kugel hatte etwa die Hälfte von Dennings rechter Wange und damit auch einen Großteil des Zahnfleischs und der Zähne weggerissen. Die Wunde sah scheußlich aus und blutete stark. George kam ein Satz in den Sinn, den er vor ein paar Wochen zu Maggie gesagt hatte, als sie sich den Zeh am Wohnzimmertisch gestoßen hatte: »Muss ganz schön wehtun.« Maggies Schmerz war so groß gewesen, dass sie ihn nur böse angefunkelt hatte und davongehumpelt war. In die jetzige Situation hätte der Satz besser gepasst. George wollte, dass es wehtat, und zwar gewaltig. Er wollte, dass Denning die stärksten körperlichen Schmerzen erlitt, denen je ein Mensch ausgesetzt gewesen war. Eine Kugel mitten ins Gesicht. Muss ganz schön wehtun.
    Dieser befriedigende Gedanke hielt nicht lange vor, weil George von qualvoller Unentschlossenheit und lähmender Angst ergriffen wurde. Denning lag immer noch auf dem Boden. Sein Kopf war so blutig, dass es aussah, als hätte man ihn in rote Farbe getaucht. Es dauerte eine Weile, bis George merkte, dass Tommy ihn aus dieser blutigen Masse heraus anstarrte.
    Am Ende des Waggons ertönte plötzlich ein Geräusch. Es hörte sich an, als würde jemand durch die Fenster in den

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