9 Stunden Angst
Atemzug war ein Seufzen, das beinahe zufrieden klang.
Denning stand auf und blickte George an.
»Na, sehe ich hübsch aus?« Sein gequältes Lächeln bildete nun die zweite Öffnung, durch die seine blutigen Zähne sichtbar waren. Es sah aus, als hätte er zwei Münder, einen vorne und einen an der Seite. George erwachte aus seinem Lähmungszustand.
»Muss ganz schön wehtun«, sagte er.
Einer der Münder ging zu.
»Das können Sie laut sagen. Es tut sogar höllisch weh, aber nur oberflächlich. Innerlich spüre ich überhaupt nichts.«
Die Kugel, die den Laptop getroffen hatte, hatte ihn vollkommen zerstört. Er lag zertrümmert auf dem Boden. Denning neigte den Kopf zur Seite und sah ihn leidenschaftslos an.
»Meine Kinder …« Georges Stimme bebte.
»Einen Moment.«
Denning zog die Waffe aus der Jackentasche und zielte damit durch die Verbindungstüren in den zweiten Waggon. George hätte nicht zu sagen vermocht, wie viele Schüsse er abfeuerte. Sie folgten schnell aufeinander, und die Patronenhülsen klapperten nur so auf den Boden. Denning nahm den Finger erst vom Abzug, als er keine Kugeln mehr hatte. Dann löste er das leere Magazin vom Griff und ließ es auf den Boden fallen, bevor er ein neues einschob und durchlud. Vom Ende des zweiten Waggons klangen Schreie und Geheul herüber. Menschen waren getroffen worden, es gab Verletzte und Tote.
»Man darf nie unterschätzen, wie wirkungsvoll es ist, wahllos auf Menschen zu schießen, um Angst und Schrecken zu verbreiten. Funktioniert ausnahmslos immer.«
»Meine Kinder«, wiederholte George und legte diesmal noch mehr Nachdruck in seine Stimme.
Zum ersten Mal, seit der Mann ihm ins Gesicht geschossen hatte, hob Denning die Hand und fuhr mit den Fingerspitzen an dem zerklüfteten Krater entlang, den die Kugel gerissen hatte. Dann hob er das Walkie-Talkie an den Mund. »Ich bin’s. Vergiss, was ich über die Kinder gesagt habe. Vorerst.«
Aus den Augenwinkeln nahm George eine Bewegung wahr. Er senkte den Blick und sah Wasser zwischen den Türspalten hindurchsickern. Die Rinnsale auf dem Boden des Zuges verbanden sich rasch miteinander. Wie als Reaktion auf das eindringende Wasser flackerte die Beleuchtung im Waggon und wurde schwächer.
12.20 Uhr
U-Bahn-Leitstelle St. James’s
»Die Übertragung ist abgebrochen«, verkündete White. »Und auf Funkkontakt reagiert niemand.«
»Jemand muss ihn umgebracht haben«, sagte Hooper und klang zum ersten Mal an diesem Tag ein wenig hoffnungsvoller.
Ed war nicht bereit, sich seiner optimistischen Sicht anzuschließen. »Hoffentlich, denn sonst könnte die plötzliche Funkstille auch bedeuten, dass er den Sprengstoff gezündet hat.«
»Ich setze mich sofort mit dem Rechenzentrum in Verbindung«, erklärte Laura. »Mal sehen, ob nur die Internetverbindung mit Denning abgerissen oder der Datenaustausch im ganzen Zug zum Erliegen gekommen ist.«
Eds Warnung zum Trotz hatte sich die Atmosphäre im Raum gewandelt, das war deutlich zu spüren. Die angespannte Weltuntergangsstimmung war aufgeregtem Stimmengewirr und erwartungsvoller Nervosität gewichen. Konnte die Szene, die sie gerade beobachtet hatten, wirklich schon das Ende der Geiselnahme gewesen sein? Hatte es tatsächlich jemand geschafft, Denning zu überwältigen? Und falls ja, wie würden die anderen Entführer reagieren? Ohne ihren Anführer, ihr Aushängeschild, warfen sie vielleicht das Handtuch. Dann konnten die Zuginsassen in weniger als einer Stunde aus dem Tunnel evakuiert sein. Vielleicht stellte sich die größte und auf den ersten Blick schwierigste Geiselnahme, mit der Ed es jemals zu tun gehabt hatte, auch als die mit der schnellsten Lösung heraus. Möglich war es. Dennoch fiel es Ed schwer, sich dem nervösen Optimismus seiner Kollegen anzuschließen. Zwar deutete momentan alles darauf hin, dass jemand die Gelegenheit ergriffen und auf den Anführer der Geiselnehmer geschossen hatte, aber sein Gefühl trog ihn selten, und er spürte mit jeder verstreichenden Sekunde, dass Denning noch ausgesprochen lebendig war.
Als Laura zurück ins Zimmer trat, verrieten ihm ihre verhaltenen Schritte, dass sie schlechte Neuigkeiten mitbrachte. Ihr Tonfall bestätigte sein Gefühl: Die Gefahr war noch lange nicht vorüber.
»Die E-Mails und Internetanrufe, die aus dem Zug heraus getätigt wurden, deuten darauf hin, dass im ersten Waggon noch mehr Schüsse gefallen sind und Passagiere aus dem zweiten Waggon verletzt wurden, einige von ihnen tödlich.
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