90 Tage auf Bewaehrung
einem Ruderboot sitzend, das Schicksal befrage. Wir sammeln vorher alle Jahreshoroskope und Fotos von aktuellen oder Ex-Lieben und befragen dann »Titanias Orakel«. Von »Werde ich jemals Grundbesitz haben?«, »Soll ich den Anruf von... beantworten?« über »Wie wird mein zukünftiger Ehemann aussehen?«, »Bin ich meinem Seelengefährten schon begegnet?« bis hin zu »Sollte ich das Angebot von... annehmen?« ist alles dabei. Wir nehmen Wein mit und Kerzen und konzentrieren uns voll auf das magische Element. Ab Stunde zwei wird das erfahrungsgemäß zunehmend schwieriger, vier angetrunkene Großstadtsusen auf einem schwankenden Miniboot mit so viel Schicksal suchen Antworten auf hunderte Fragen. Am nächsten Tag erinnert sich keine von uns an auch nur eine einzige Antwort, wir hatten Spaß, waren zusammen, haben geredet und hatten uns - genial.
Ein bisschen anders verhält es sich, wenn wir zu einer so genannten Wahrsagerin gehen. Alle zwei Jahre hat eine von uns DIE einzig wahre Hellseherin aufgetan, die mit dem Urtalent,
die alles sieht, weiß und kann. Da pilgern wir dann der Reihe nach hin, um uns hinterher zum Kaffee zu treffen und alles durchzuhecheln. Jobwechsel in einem Jahr, Mann zum Heiraten erst in der zweiten Runde, noch ein Kind, auf Gelenke, Zähne und Unterleib aufpassen. Oder auch: Achtung! Eine Freundin meint es nicht gut. Können Sie sich vorstellen, was mit so einer Aussage ausgelöst wird? Krieg! Zunächst unterschwellig, dann offen! Und wenn wir dann mal wieder eine Krise überwunden haben, frage ich mich jedes Mal wieder, warum wir da überhaupt hingehen? Mir macht es Spaß und unterstützt mich in meinem positiven Denken und gibt mir ein gutes Gefühl - solange sie was Gutes sagt. Ist es was Schlechtes, halte ich es sowieso für Schwachsinn. Wie bei Horoskopen. Für Sabrina ist es eine Art Therapie, für Kerstin eine Offenbahrung, für Jörg die »geilste Droge der Welt«, und für Ronja liegt der Reiz im Verbotenen.
Klar habe ich dreimal überlegt, ob ich jetzt hingehen sollte. Der Zeitpunkt wäre ja günstig: Ich war schwer verliebt und plante meine Zukunft. Werden wir heiraten, Kinder kriegen, bleiben wir hier, oder ziehen wir um, hält die Beziehung? Fragen über Fragen. Ich hatte schon das Handy am Ohr, als es mir durch den Kopf schoss: Was, wenn ich Dinge höre, die ich gar nicht hören will? Wenn sie keine Liebe, keine Heirat, keine Kinder, keine Zukunft sieht? Kann ich dann ohne Probleme so glücklich weiterleben, oder habe ich immer die Trennung und andere Katastrophen im Kopf? Ich habe viel zu viel Respekt vor den so genannten »sich selbst erfüllenden Prophezeihungen«, Dinge, an die man glaubt und die dann auch so passieren, obwohl man es eigentlich nicht will. Furchtbar. Nee, dann fordere ich das Schicksal lieber nicht heraus. Und spare 90 Euro.
Eigentlich steckt ja in jeder Frau eine Hexe - Frauen gebären, trösten, heilen, nehmen Kinder in den Arm, schenken Wärme und Liebe, sind magisch. Deshalb ist es gar nicht so unverständlich, wenn frau, egal ob Topmanagerin, Tierpflegerin, Zahnärztin oder Kassiererin, sich auf diesem Wege Rat holen möchte, egal wie tough, rational, clever und bodenständig sie ist. Beim Thema Liebe werden die weiblichen Urkräfte geweckt. Sind Frauen unsicher, haben sie Fragen, Liebeskummer, Sehnsüchte, folgen sie wie Seekühe auf der Suche nach Futter den Worten der Wahrsagerin, vollführen magische Rituale und tragen Rosen unter der Bluse.
Sabrina stand kurz vorm Ziel: Bereits zwei Tage lagen die stinkenden Rosen, die sie zuvor drei Tage am Busen getragen hatte, schon im Wein, als sie einen dringenden Banktermin vorschob, um sich das Objekt ihrer Qual noch mal aus der Nähe anzuschauen. Diese Nähe war relativ ernüchternd: abgeknabberte Fingernägel, Pigmentflecken im Gesicht und totales Desinteresse, eine rotzige, unfreundliche Art ihr gegenüber. Nee, den wollte sie dann doch nicht.
Aber die Sache mit dem Wein zog sie bis zum bitteren Ende durch - wer will schon ständig piekende Rosen am Dekolletee tragen. Der edle Tropfen steht jetzt gut verkorkt im Regal und wartet auf den nächsten Einsatz. Deshalb kann ich an dieser Stelle noch nichts über die Wirkung dieses Rituals sagen …
Nachdem ich Sabrina dann doch noch Bepanthen aus der Apotheke besorgt habe (die Verletzungen von den Rosen zwischen ihren Brüsten sahen zum Fürchten aus, und wie hätte sie diese merkwürdigen Narben jemals erklären sollen?), bummelte ich bei erstem
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