911
eine Sicherheitsnadel in den Arm steckt oder mit der Rasierklinge den Hals aufschneidet. Das Fahren des übersteuernden Elfers wirkt dabei wie die existentiellste Selbstgefährdung. Nicht nur der Held fährt den Elfer stets am Rande des Crashs. Der Ur-Elfer schleudert durch die engen Spitzkehren des alten Brüssels oder driftet über die Landstraßen um die belgische Großstadt herum. Die im Film gezeigten Elfer befinden sich entweder im steten Drift oder stehen wie Skulpturen absoluter Eleganz in einem Brüssel, das oft genug aussieht wie eine polnische Stadt. Es ist Skolimowskis erster Film in Westeuropa. Der Film gewann bei der Berlinale den Goldenen Bären und erscheint filmhistorisch als direkter Vorläufer von May Spils’ »Zur Sache, Schätzchen«, der ein Jahr später in die Kinos kam.
Skolimowski zeigt den Elfer liebevoll. Seine Kurven sind stets dramatisch ausgeleuchtet. Der weiße Porsche am Anfang des Films glänzt neu im Licht der Straßenlaternen. Die Bilder spiegeln das Schwärmen von Marc. Jean-PierreLéaud, der auch ein wenig aussieht wie der junge Regisseur, erscheint so offensichtlich als Double des Künstlers. Selbst in der ersten gemeinsamen Nacht liegt Marc vor dem Bett seiner Geliebten und mimt sich selbst am Steuer eines Elfers. Und da endet der Film wenig später. Irgendwie im Nichts. Kein Happyend. Es gibt keines. Eigentlich entwirft »Le Départ« den Mindset der Jugend nach der Rebellion. Der postheroische Hedonismus von Marc wird gut zehn Jahre später in »American Gigolo« zum Mainstream.
Der ADHS-Patient, der nie ruhig sein kann, dessen innere Unruhe ihn an das Lenkrad des Porsche treibt. Nur beim Rasen kommt er zur Ruhe, nur in diesen Szenen erhält der Film einen lyrischen Frieden. Das schleudernde Auto monumentalisiert Léauds innere Unruhe zu einem Ballett auf öffentlichen Straßen. Die Heckschleuder findet wie der Protagonist keine Balance und kein Halten. Gemeinsam gleiten sie an der Welt vorbei, die ihnen stets als zu langsam, zu unheroisch, zu bieder erscheint. Anders betrachtet geben sich der Porsche und der junge Mann als Sinnsuchender gegenseitig einen instabilen Halt. Der Porsche 911 dient stärker als die neue Freundin als materialisiertes Sinnangebot, während Marc den Porsche jene Verruchtheit ausleben lässt, die die im Zweifel kultivierten und anständigen Elfer-Besitzer wie Marcs Chef oder der Porsche-Händler dem Coupé nicht mehr abverlangen. Als ein wildes und ungestümes Auto erscheint Marc der Elfer die ideale automobile Erweiterung seines Selbst. Der Elfer hat nur oberflächlich den Gestus der Arrivierten, seine Essenz ist der Widerstand gegen die Routine des Status quo.
Als Marc mit seiner Freundin auf der Suche nach Elfern ist, die sie entwenden könnten, gleicht dies einem Suchen nach einem seltenen Schatz. Der Porsche ist ein Auto, das auch ineiner wohlhabenden Stadt wie Brüssel nicht an jeder Straßenecke angetroffen werden kann. Dabei ist bemerkenswert, wie sehr der Elfer als ein urbanes und eben nicht in Schlössern und Anwesen verstecktes Sportgerät gesehen wird. Es ist ein junges Auto, eines, das nach einem 19-jährigen Fahrer schreit, so wie die im Film gezeigte Pagode zu Recht einen alternden Vamp als Fahrerin besitzt.
So respektlos die Art der Beschaffung des Porsche ausfällt, so liebevoll erscheint der Umgang mit ihm. Auch ein Anarchist wie Marc respektiert Autoritäten, der Porsche scheint ihm eine zu sein. Die Hingabe zum Auto steht in denkbar scharfem Kontrast zur sonst umfassenden Respektlosigkeit von Marc. Eine ähnliche Konstruktion wird in der Fernsehserie »Californication« genutzt, um den notorisch untreuen Womanizer Hank Moody zu charakterisieren. Seine einzige Liebe, der er treu bleibt, gilt einem schwarzen Porsche 911 Cabriolet. Auch Moody versteht sich als unpolitischen Anarchisten. Er wütet gegen die herrschenden Verhältnisse, ohne eine gesellschaftliche Alternative zu besitzen. Er ist radikales Individuum. Am Ende von »Le Départ« bleibt offen, ob der Held sich mehr in das Auto oder in das Mädchen verliebt hat: Beide erscheinen gleich verführerisch.
Mit Marc schuf Skolimowski den Archetyp des Porsche-Elfer-Fahrers im Kino. Es ist ein Fahrzeug für Überindividualisten und Geschwindigkeitssüchtige. 1970 bekommt ein Porsche 911 S in dem Rennfahrer-Film »Le Mans« den ersten Hauptauftritt. Steve McQueen fährt das schiefergraue Modell im Morgen durch die französische Provinz zur Rennstrecke von Le Mans. Auch
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