99 Särge: Roman (German Edition)
tauchte es in einem Web-Forum auf, dann erst brach die Massenermittlung los. Von Jiang wissen wir, dass der Betreiber des Web-Forums eine elektronische Version des Fotos mit einem schriftlichen Hinweis auf die Zigarettenschachtel zugeschickt bekam.«
»Wer hat das Foto denn geschickt?«
»Der Absender hat eigens dafür eine E-Mail-Adresse angelegt und sich in einem Internetcafé eingeloggt.«
»Ja, und die E-Mail-Adresse hat er anschließend nie wieder benutzt.«
»Jiang hat in dem Café nachgefragt, aber nichts in Erfahrung bringen können. Er vermutet daher, dass der Unruhestifter die möglichen Konsequenzen einer Massenermittlung vorhergesehen und seine Spuren verwischt hat. Deshalb hat Jiang in diese Richtung …«
»Einen Moment, Wei. Wollen Sie damit sagen, dass Jiang den Absender für den Mörder hält?«
»Nein, für Jiang war es eindeutig Selbstmord. Doch diese Schlussfolgerung scheint mir voreilig, auch wenn ich die Gründe dafür nicht kenne.«
»Und was denken Sie?«
»Ich glaube, der Absender muss nicht notwendigerweise der Mörder sein. Inwiefern sollte er von Zhous Tod profitiert haben? Da gäbe es ganz andere Kandidaten, Vizeparteisekretär Chen.«
Der parteiinterne Titel hatte aus Weis Mund einen eigentümlichen Klang. Es war das erste Mal, dass Wei ihn benutzte, und Chen verstand die Botschaft. Der Hauptwachtmeister wollte damit sagen, dass diejenigen, die es auf Zhous Position abgesehen hatten, ganz oben auf der Liste der Verdächtigen standen.
»Haben Sie sich Zhous Büro schon angesehen?«, fragte Chen, ohne auf Weis Bemerkung einzugehen.
»Ja. Aber am Tag von Zhous Internierung hat Jiang bereits eine gründliche Durchsuchung vornehmen lassen, deshalb dürfte für uns dort kaum noch etwas zu finden sein. Ich habe mich über eine Stunde mit dem Vizedirektor, einem gewissen Dang Hao, unterhalten, aber dabei hat sich ebenfalls nichts ergeben. Sie wissen ja, wie diese Kader in ihrem politisch korrekten Parteichinesisch um den heißen Brei herumreden. Dang hat Zhou nach Kräften denunziert, es klang wie aus einem Leitartikel der Wenhui -Tageszeitung.«
»Wenn eine Mauer zu wackeln beginnt, drücken die Leute dagegen, vor allem diejenigen, die nachrücken«, bemerkte Chen, doch dann zügelte er sich, schließlich war auch er Vizeparteisekretär. »Und was hat er außerdem gesagt?«
»Dang hat zwar über Zhou hergezogen, aber die Politik seiner Dienststelle durchaus verteidigt. Er gab zu, dass Zhous Position als Sprachrohr der Stadtregierung keine einfache war. Schließlich ist Shanghais Wirtschaft vom wachsenden Immobilienmarkt abhängig.«
»Mit anderen Worten, Zhou hätte diese Rede niemals gehalten, wenn sie nicht von der Stadtregierung abgesegnet gewesen wäre?«
»So sehe ich das«, erwiderte Wei. »Dang hat außerdem bestätigt, dass Zhou das Foto selbst freigegeben und seiner Sekretärin, einer gewissen Fang, gegeben hat, die es dann an die Presse weitergeleitet hat.«
»Interessant, normalerweise ist das Aufgabe eines Fotojournalisten.«
»Zhou war viel an seinem öffentlichen Erscheinungsbild gelegen, er hat die Bilder für die Medien immer selbst ausgesucht.«
»Aber jemand muss das Foto doch gemacht haben. Zum Beispiel ein Pressefotograf.«
»Das ist es ja, was mich wundert. Laut Jiang wurden alle E-Mails von Zhou überprüft, aber man hat keine Hinweise darauf gefunden, woher das Foto kam.«
»Vielleicht hat er E-Mail und File anschließend gelöscht. Aber Jiangs Leute sind Profis. Die hätten bestimmt Spuren gefunden, wenn das Foto auf Zhous Computer gewesen wäre.«
»Sehe ich auch so«, sagte Wei nachdenklich. »Das Motiv könnte aber ganz woanders zu suchen sein. In dieser Rede hat Zhou eine bestimmte Firma erwähnt, die die Preise auf unverantwortliche Weise drücken wollte. Er hat zwar keine Namen genannt, aber jedem war klar, dass damit Green Earth gemeint war. Bevor der Skandal um die 95 Supreme Majesty losbrach, ist Teng Jialiang, der Direktor von Green Earth, unter enormen Druck geraten.«
»Ein guter Ansatz, Hauptwachtmeister Wei. Haben Sie sich mit dem Mann in Verbindung gesetzt?«
»Ja, und Teng hat sich erstaunlich kooperativ gezeigt. Er hat mir wichtige Hintergrundinformationen zu Zhous Rede geliefert. Im vergangenen Jahr haben die Behörden in Peking über die Notwendigkeit nachgedacht, die explodierenden Immobilienpreise im Sinne einer harmonischen sozialistischen Gesellschaft zu deckeln. Daraus hat Teng gefolgert, dass eine leichte Preisminderung
Weitere Kostenlose Bücher