99 Särge: Roman (German Edition)
Wenhui . Erinnern Sie sich noch an mich? Ich habe hier gerade etwas über Sie gelesen.«
»Natürlich erinnere ich mich an Sie, Lianping. Was gibt es?«
»Lassen Sie mich kurz aus der Zeitung vorlesen, Oberinspektor: ›Wie uns Oberinspektor Chen bestätigt, gibt es keine Hinweise darauf, dass es sich bei dem Tod von Zhou nicht um Selbstmord handeln könnte.‹«
»Aber das ist absurd«, erwiderte er. »Wer hat dieses unverantwortliche Statement herausgegeben?«
»Jiang von der Stadtregierung.«
»Die Ermittlungen sind noch nicht abgeschlossen. Das ist alles, was ich derzeit dazu sagen kann.«
»Jiang drückt sich zwar vieldeutig aus, aber es klingt so, als hätten Sie den Fall bereits ad acta gelegt.«
»Keineswegs. Aber danke, dass Sie mich informiert haben, Lianping. Wir gehen weiterhin einigen Hinweisen nach. Ich sage Bescheid, sobald wir zu einem Ergebnis kommen.«
»Vielen Dank, Oberinspektor Chen. Und vergessen Sie bitte die Gedichte nicht, die Sie unserer Zeitung versprochen haben. Ich bewundere Ihre Lyrik sehr.«
Jiangs Aussage verwunderte Chen eigentlich nicht, mit so etwas hatte er gerechnet. Hauptwachtmeister Wei, der aufgestanden war, konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
»Ich muss wieder an die Arbeit«, sagte er.
Chen war unter den Kollegen als romantischer Dichter bekannt und dafür, dass er eine Affäre mit einer Wenhui -Journalistin gehabt hatte. Vermutlich hatte Wei mitbekommen, dass der Anruf aus der Redaktion kam, und zog nun seine eigenen Schlüsse.
Chen hatte der Journalistin gesagt, was er zu sagen hatte. Doch dann wanderten seine Gedanken zurück zu ihrer Unterhaltung im Garten des Schriftstellerverbands und zu den Zeilen von Su Dongpo, an die sie ihn erinnerte, als sie leichtfüßig über den Gartenweg davonging.
8
Nachdem Wei gegangen war, blieb Chen noch eine Weile im Café sitzen. Der Oberinspektor musste in Ruhe die Informationen sortieren, die er soeben erhalten hatte.
Er bestellte sich einen weiteren Kaffee, der ihm ebenso gut schmeckte wie der erste. Das Sofa war bequem, und die hohe Rückenlehne schirmte ihn ein wenig vom Café ab.
Chen saß da und rührte versonnen in seiner Tasse.
Irgendetwas an dem Gespräch mit dem Hotelangestellten schien ihm bedeutsam, ohne dass er hätte sagen können, warum. Der Gedanke schlüpfte ihm wie ein Reisfeldaal durch die Finger. Vielleicht hatte Hauptwachtmeister Wei ihm auch nicht alles gesagt, zumindest nicht direkt. Und das wäre nur verständlich, denn schließlich waren hohe Kader in den Fall verwickelt, zu mächtig für einen einfachen Polizisten wie Wei, der obendrein weder Beweise oder Anhaltspunkte vorzuweisen hatte. Dennoch glaubte Chen zu verstehen, worauf Wei hinauswollte.
Wieder ließ er die Details, die Wei erwähnt hatte, Revue passieren, während er an seinem Kaffee nippte. Ein Mann, der die Absicht äußerte, künftig noch öfter Jinhua-Schinken zu essen, würde wohl kaum zwei Stunden später auf die Idee kommen, sich umzubringen.
Auch das Foto, mit dem alles angefangen hatte, warf Fragen auf. Sollte Zhou es tatsächlich selbst ausgesucht haben, so war er mit den eigenen Waffen geschlagen worden.
Hauptwachtmeister Wei war offenbar entschlossen, in seinen Ermittlungen eine andere Richtung einzuschlagen als Jiang, eine, die diesem nicht genehm war. Und als Berater war der Oberinspektor geneigt, sich hinter seinen Kollegen zu stellen.
Dennoch wäre es unklug, eine Konfrontation mit Jiang zu riskieren.
Wenn den Behörden daran gelegen wäre, den Fall einfach nur rasch abzuschließen, so hätten sie das auch ohne Chens »Rückendeckung« tun können und schon gar, ohne Wei nach seiner Meinung zu fragen. Ein Parteimitglied musste vorrangig im Interesse der Partei handeln, auch Chen hatte sich dementsprechend zu äußern oder den Mund zu halten. Aber trotz der Pressemeldung hielt Jiang sich weiterhin im Hotel auf, gestattete der Polizei, dort ihre Ermittlungen durchzuführen, und löcherte die Beamten mit seinen Nachfragen. Chen würde besser nicht dort erscheinen. Er würde eine andere Strategie verfolgen.
Bevor er das Café verließ, kaufte er einen Geschenkgutschein im Wert von hundert Yuan, den er Weis Sohn schenken wollte.
Unweit der He’nan Lu blieb er vor einem riesigen Gebäude stehen, das zum Teil eingerüstet war. Einige der führenden Marken verkündeten bereits stolz, demnächst hier einen Firmensitz zu eröffnen. Einem der Schilder war zu entnehmen, dass bald ein weiteres Luxuskaufhaus eröffnen
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