99 Särge: Roman (German Edition)
plötzlich der Gedanke an Selbstmord. Das ist durchaus vorstellbar.«
»Ich habe mit seiner Witwe gesprochen«, entgegnete Chen. »Sie hat sich über die wiederholten Durchsuchungen beschwert und gesagt, es seien sämtliche Dokumente und sein Computer mitgenommen worden. Haben Sie dort irgendwelche Hinweise gefunden?«
»Nichts. Er hatte alle Dateien gelöscht.«
Chen fragte sich, ob Jiang ihm die Wahrheit sagte, aber letztlich war es egal, der Oberinspektor war machtlos.
»Und was hat Frau Zhou Ihnen sonst noch erzählt?«, fragte Jiang.
»Sie betonte, wie hart ihr Mann für die Stadt gearbeitet habe und dass es nicht gerecht sei, ihm die alleinige Schuld zu geben.«
»Wie kommt sie denn darauf?« Jiang hielt kurz inne und fuhr dann fort: »Es liegt im Interesse der Stadtregierung, dass die Umstände von Zhous Tod möglichst bald aufgeklärt werden. Bislang wurde nichts Verdächtiges gefunden, meines Erachtens kann man also von Selbstmord ausgehen.«
»Ich verstehe. Die Lage ist kompliziert. Ich werde Wei noch einmal kontaktieren und Ihnen dann berichten.«
Nachdem er aufgelegt hatte, war Chen klar, dass er erneut mit Wei reden musste, doch die Gründe dafür würde er Jiang nicht auf die Nase binden.
7
Tags darauf passte Chen den Hauptwachtmeister um die Mittagszeit in der Kantine des Präsidiums ab.
»Wie wär’s nach dem Essen mit einer Tasse Kaffee, Wei?«, fragte Chen, der eine Schale gegrilltes Schweinefleisch mit Nudeln in der Hand hielt.
»Ich trinke keinen …«, protestierte Wei, ließ den Satz aber unvollendet. »Gute Idee, Chef«, meinte er dann.
Eine Viertelstunde später verließen sie das Präsidium.
»Wir könnten zu Starbucks gehen, oder wo Sie sonst gern etwas trinken, Wei.«
»Mit Kaffee kenne ich mich nicht aus«, erwiderte Wei, »aber mein Sohn redet andauernd von einem Restaurant, das Häagen-Dazs heißt.«
»Ja, da könnten wir hingehen, es gibt eines an der Nanjing Lu, Höhe Fujian Lu, gleich neben dem Sofitel.«
Keine so gute Wahl, dachte Chen. In Shanghai stand die Eiscrememarke für ostentativen Konsum, weshalb sich in den luxuriös ausgestatteten Läden der Kette vor allem junges Publikum blicken ließ, das seinen Status zur Schau stellen wollte. Es gab sogar eine Fernsehwerbung, in der eine hübsche junge Frau erklärte: »Wenn du mich liebst, lad mich zu Häagen-Dazs ein.«
Immerhin gab es dort ordentlichen Kaffee, auch wenn Chen ein richtiges Café lieber gewesen wäre. Sie nahmen auf einem Sofa Platz, das weich und bequem war und ihnen einen Blick auf die belebte Fußgängerzone bot.
»Erzählen Sie mir, wie es Ihnen ergangen ist«, begann Chen und nahm einen Schluck von seinem Kaffee.
»Wir müssen eine gründliche Untersuchung durchführen, bevor wir von Selbstmord ausgehen können, nicht wahr?«
»Richtig. Erinnern Sie sich an das, was Parteisekretär Li ganz zu Anfang gesagt hat, als wir den Fall zugeteilt bekamen? Wir sollten ermitteln und dann bestätigen, dass es sich um Selbstmord handelt. Aber lassen Sie sich von ihm nicht irritieren. Schauen wir uns lieber an, was Sie herausgefunden haben.«
Hauptwachtmeister Wei blickte ihn erstaunt an; er hatte den sarkastischen Unterton in der Bemerkung über Parteisekretär Li durchaus herausgehört.
»Die Ermittlungen gestalten sich etwas schwierig, weil wir so wenig über die Hintergründe wissen. Zhou wurde eine Woche vor seinem plötzlichen Tod interniert, aber Jiang liefert uns keine Informationen darüber, was vorher passiert ist. Ich frage mich, warum.«
Für Chen war diese Frage einfach zu beantworten. Aus Jiangs Sicht sollten die Umstände, die zu dem shuanggui geführt hatten, nicht an die Öffentlichkeit gelangen, um das Bild einer harmonischen Gesellschaft nicht zu stören, selbst wenn dadurch die Polizeiarbeit behindert wurde.
»Nehmen wir mal an«, fuhr Wei fort, ohne auf Chens Erwiderung zu warten, »dass es sich um Mord handelt – rein hypothetisch. Was könnte das Motiv sein?«
»Haben Sie denn ein Motiv gefunden?«
»Mehrere sogar. Wir müssen uns auf Leute konzentrieren, die von Zhous Tod profitiert haben, nicht wahr?«
»Stimmt, diese Liste dürfte nicht lang sein, aber man sollte sie auf jeden Fall überprüfen.«
»Außerdem habe ich den Eindruck, dass die Sache etwas mit dem Foto zu tun hat, das im Internet aufgetaucht ist.«
»Können Sie mir das näher erläutern, Wei?«
»Das Foto erschien zuerst in einer Zeitung. Dort wurde ihm keine weitere Beachtung geschenkt. Anschließend
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