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99 Särge: Roman (German Edition)

99 Särge: Roman (German Edition)

Titel: 99 Särge: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Xiaolong Qiu
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nicht vergessen.«
    »Ich wusste, dass Sie für uns schreiben würden.«
    In Wirklichkeit war sie sich gar nicht so sicher gewesen. Ein hochrangiger Polizeibeamter hatte anderes zu tun. Es war nur ein Versuch gewesen, in ihrer vorübergehenden Funktion als Literaturredakteurin etwas auf die Beine zu stellen.
    Sie hatte bereits während ihres Studiums von Chen Cao gehört, nicht als professionellem Schriftsteller, sondern als erfolgreichem Oberinspektor. Und natürlich war sie umfassend informiert, seit sie bei der Wenhui angefangen hatte, dort erzählten vor allem die Kollegen, die über Verbrechen und Politik in Shanghai berichteten, von dem Oberinspektor. Ihr Zusammentreffen beim Schriftstellerverband hatte jedoch keinen nachhaltigen Eindruck bei ihr hinterlassen. Chen war ihr zu reserviert erschienen, nicht der romantische Dichter, den sie sich vorgestellt hatte, eher wie ein aufstrebender Parteikader; dennoch konnte sie seine Haltung verstehen.
    »Ich habe ein paar ältere Gedichte für Sie herausgesucht.«
    »Bitte schicken Sie sie mir an meine Mail-Adresse. Ich brenne darauf, die Texte zu lesen.«
    »Ich rufe aus der Lobby Ihres Redaktionsgebäudes an, Lianping. Eigentlich würde ich gern mit Ihnen über …«
    »Ach, wirklich?«, unterbrach sie ihn. »Ich bin in fünf Minuten bei Ihnen, Oberinspektor Chen. Wie wäre es, wenn wir uns in der Cafeteria im fünfzehnten Stock treffen? Dort können wir uns in Ruhe unterhalten.«
    Während sie ihr Mobiltelefon zuklappte, spürte sie Yaqings ungläubigen Blick auf sich ruhen.
    »Oho«, bemerkte die Freundin. »Oberinspektor Chen Cao erwartet dich in der Lobby, nein, besser noch, im Café.«
    »Ich bin ihm neulich bei einer Tagung des Schriftstellerverbands begegnet. Schließlich muss ich deine Literaturseite füllen, schon vergessen?« Eilig stand sie auf. »Es tut mir leid, ich muss zurück in die Redaktion.«
    »Ein vielseitiger Mann, dieser Chen Cao«, meinte Yaqing. »Als aufstrebender Parteikader ist er mit wichtigen Fällen betraut und verfügt über gute Kontakte bis hinauf in die Verbotene Stadt. Und zugleich ist er ein ernstzunehmender Dichter. Wir haben schon öfter Gedichte von ihm in der PEN -Kolumne veröffentlicht. Außerdem habe ich gehört, dass er vor einigen Jahren mit einer unserer Journalistinnen zusammen war und ihr sogar Gedichte gewidmet hat. Die hat sie dann in der Zeitung veröffentlicht.«
    »Das ist ja unglaublich. Dann ist aus den beiden wohl nichts geworden?«
    »Nein, aber die näheren Umstände kenne ich nicht. Sie heißt Wang Feng und ist später nach Japan gegangen. Mehr weiß ich auch nicht. Ein Parteikader, der Rätsel aufgibt.«
    »Findest du? Ein Beamter in seiner Position dürfte doch jede Menge Auswahl haben, wenn’s um Frauen geht. Die stehen bestimmt Schlange bei ihm. Hast du vielleicht noch eines seiner Gedichte von damals greifbar?«
    »Kann sein, dass ich irgendwo in meinem Computer Kopien davon habe.«
    »Hervorragend. Bitte maile mir, was du finden kannst.«
    »Gern, aber wozu?«
    »Damit ich mich mit ihm darüber unterhalten kann.«
    »Verstehe. Kein Problem. Es könnte dir auch politisch nützlich sein, wenn du seine Sachen bei uns in der Zeitung unterbringst. Er ist zwar bislang nur Vizeparteisekretär des Präsidiums, aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis er aufrückt. Das weiß ich von Ji«, sagte Yaqing. »Du bist ein echter Vielfraß. Sitzt vor der vollen Schüssel und schielst schon nach der nächsten.«
    »Ach was, Yaqing. Ich bin doch bloß an seinen Gedichten interessiert.«
    »Er ist zweifellos eine Trumpfkarte.« Yaqing begleitete sie zum Aufzug. »Aber auch ganz schön kompliziert, da weiß man nicht, worauf man sich einlässt. Wenn du mich fragst, ist dein derzeitiger Freund Xiang die bessere Wahl.«
    Im Aufzug auf dem Weg nach unten fragte sich Lianping, was es mit Chens Besuch auf sich hatte. Wegen der Gedichte hätte er nicht extra vorbeizukommen brauchen, ein Anruf oder eine Mail hätten genügt. Jede Zeitung in der Stadt würde seine Texte mit Kusshand nehmen.
    Als sie fünf Minuten später die Lobby des Wenhui-Gebäudes betrat, entdeckte sie ihn sofort.
    »Ich muss mich hier ausweisen und registrieren lassen«, sagte er. »Deshalb erschien es mir einfacher, wenn Sie mich als einen Ihrer Autoren mit hineinnehmen.«
    Das war rücksichtsvoll von ihm. Der Besuch eines Polizisten hätte zu Spekulationen Anlass gegeben, andererseits waren Polizeikontakte für eine Journalistin nichts Ungewöhnliches.
    Er

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