99 Särge: Roman (German Edition)
trug an diesem Morgen einen hellgrauen Blazer, ein weißes Hemd und eine Khaki-Hose und sah keineswegs wie ein Polizist aus, aber auch nicht wie einer dieser langhaarigen modernistischen Dichter.
»Ich bin so froh, dass Sie sich die Zeit genommen haben, Oberinspektor Chen. Fahren wir ins Café hinauf, da haben wir mehr Ruhe und eine schöne Aussicht.«
»Gern, und bitte nennen Sie mich Chen. Ein Polizist ist hier womöglich nicht so wohlgelitten.«
»Aber ein hochrangiger Beamter wie Sie ist doch überall willkommen, noch dazu bei einer Parteizeitung.«
»Treffend formuliert«, lobte er ihre schlagfertige Antwort.
Sie nahmen den Aufzug in den fünfzehnten Stock und wählten im Café einen Tisch am Fenster. Er bestellte eine Tasse frisch gebrühten Kaffee, sie entschied sich für Jasmintee, auf dem weiße Blüten und zartgrüne Teeblätter schwammen.
Nicht alles, was möglich ist, ist auch gut, überlegte sie, eine Jasminblüte zwischen den Lippen.
»Ich schätze Ihr Engagement für die Literatur, besonders in Zeiten, wo kaum noch jemand Gedichte liest«, begann er und trank von seinem Kaffee. »Aber mein Pinsel ist eingetrocknet. Ich kam heute zufällig hier vorbei, und da fiel mir ein, dass wir vielleicht über die Texte reden könnten.«
Sie konnte nicht umhin, sich geschmeichelt zu fühlen. Zumindest hatte er ihre Anfrage ernst genommen.
»Welche Gedichte haben Sie mir denn mitgebracht?«
»Entschuldigen Sie, dass ich mit leeren Händen dastehe, aber wie Sie vielleicht wissen, bin ich derzeit mit einem besonders heiklen Fall betraut und habe jede Menge Arbeit. Aber ich würde gern mit Ihnen über die Themen sprechen, die Ihnen für die Wenhui geeignet erscheinen.«
»Lassen Sie mich nachsehen, vielleicht habe ich hier noch eines der Gedichte, die Sie damals für uns geschrieben haben.«
Sie zog ihr Smartphone heraus und drückte ein paar Tasten: Und tatsächlich, Yaping hatte ihr Versprechen gehalten und ihr die Texte gemailt. Lianping schob das Telefon zu Chen hinüber.
Nach einem raschen Blick auf den Bildschirm gab er es ihr zurück; er wirkte peinlich berührt. »Du meine Güte, das muss Jahre her sein«, sagte er.
Es war ein Gedichtzyklus mit dem Titel »Trio«, den sie noch nicht kannte. Rasch überflog sie den ersten Text, der mit »-Tenor« überschrieben war:
Eine Strohpuppe, vom Regen durchnässt, / fröstelnd im Wind, ein zusammengeflicktes Leben: Plastikknöpfe als Augen, / um den Horizont zu fixieren / und eingehüllt in einen Mantel aus feuchtem Nebel, / die Karottennase, von einem Esel angenagt, und eine uralte, kaputte Spieluhr der Mund, / nass, exzentrisch, immer die gleiche Leier / Ling-ling-ling / an die Krähen gerichtet. // Ich zünde das vergilbte Foto an / und murmle dabei: Vergangen und vergessen / wie ein einsames Pfeifen / im dunklen Wald. Ich öffne / das Fenster und lasse den Sonnenschein herein. // An einem neuen Tag, wenn der Regen fällt, / werde ich dich wiedersehen.
»Bitte lesen Sie nicht weiter, Lianping.«
Sie konnte das lyrische Ich des Gedichts einfach nicht mit dem Parteikader in Einklang bringen, der ihr gegenübersaß und in seiner Kaffeetasse rührte. Könnte es jenes Gedicht sein, das er für Wang Feng geschrieben hatte oder für eine andere Frau, jemanden namens Ling? Klatsch über den Oberinspektor machte in ihren Kreisen immer wieder die Runde. Man konnte nicht umhin, darüber zu spekulieren, wer hier gemeint war.
»Sie sind so romantisch«, sagte sie und blickte von ihrem Handy auf.
»Heute kommt mir das nur noch sentimental vor«, bemerkte er ein wenig verunsichert. »Außerdem sollte man niemals den Dichter mit dem lyrischen Ich seiner Gedichte gleichsetzen. Um es mit Eliot zu sagen: Poesie ist unpersönlich. Ich habe diese Zeilen so hingeworfen, nachdem ich einen japanischen Film gesehen hatte; ich wollte den Schmerz des Protagonisten einfangen und das ausdrücken, was im Film unausgesprochen blieb. Eine Art Objektivierung, könnte man sagen. Aber ein solches Ich kann beim kreativen Schreiben tatsächlich eine kathartische Wirkung hervorrufen.«
»Verstehe. Wie wäre es dann mit einem einfachen Polizisten als Identifikationsfigur? Ich meine nicht so eine Ausnahmeerscheinung wie Sie, aber vielleicht können Sie sich in einen einfachen Streifenpolizisten hineinversetzen, einen Ihrer Untergebenen, der hart arbeitet und weder Lorbeeren erntet, noch im Rampenlicht steht. Das wäre ein Thema für ein Parteiorgan wie die Wenhui . Sie sind doch bestens
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