99 Särge: Roman (German Edition)
Karriere mit einem Fall befasst gewesen, bei dem der vermeintlich Verdächtige ebenjener Doktor Hou gewesen war, damals noch ein junger Arzt in einem Nachbarschaftshospital. Als Student war Hou mit der Staatssicherheit in Konflikt geraten. Laut einem internen Dossier hatte er einen amerikanischen Mediziner im Jinjiang Hotel aufgesucht; sein Name war dort mehrfach im Besucherbuch verzeichnet. Dem Amerikaner wurden Verbindungen zur CIA nachgesagt, weshalb Hou ohne sein Wissen auf die Schwarze Liste geraten war. Zwei Jahre nach Hous Universitätsabschluss fand eine internationale Konferenz in New York statt, und der Leiter der chinesischen Delegation, ein einflussreicher Kader aus Peking, schlug Hou als qualifizierten Kandidaten vor, weil er einige seiner Forschungsergebnisse auf Englisch publiziert hatte. Seine Teilnahme würde zu »Chinas Ansehen in der Welt« beitragen, meinte er. Doch bevor Hou in die Delegation aufgenommen werden konnte, musste der Vorfall mit dem Amerikaner aufgeklärt werden. Wegen seiner guten Englischkenntnisse hatte Chen damals die aufgezeichneten Telefongespräche Hous mit dem angeblichen amerikanischen Spion abgehört. Wie sich herausstellte, hatten sich die beiden lediglich über ihr gemeinsames medizinisches Forschungsgebiet ausgetauscht. An einer Stelle hatte Hou den Amerikaner ermahnt, vorsichtiger zu sein, doch aus dem Kontext war ersichtlich, dass Hou dessen Alkoholproblem gemeint hatte. Chen kam zu dem Ergebnis, dass der junge Arzt zu Unrecht auf die schwarze Liste gesetzt worden war. Er hatte die Gespräche sorgfältig transkribiert und übersetzt und zusammen mit der Empfehlung, Hou von der Liste zu streichen, an die Vorgesetzten weitergegeben.
Nicht weiter verdächtig, konnte Hou somit zu der Konferenz fahren, wo sein Vortrag positiv aufgenommen wurde. Seither war seine Glückssträhne nicht mehr abgerissen. Kurze Zeit später wurde er ans Ostchina-Hospital versetzt, das angesehenste Krankenhaus der Stadt, wo er es schließlich zum Medizinischen Direktor brachte. Erst vor etwa einem Jahr hatte Hou von einem hohen Funktionär des Krankenhauses erfahren, welche Rolle Chen damals bei der Sache gespielt hatte. Hou war daraufhin im Präsidium erschienen und hatte erklärt, Chen sei sein guiren – ein hilfreicher guter Geist, der aus dem Nichts auftaucht.
»Ich wusste, dass mir jemand geholfen hatte, aber ich wusste nicht, dass Sie es waren, Oberinspektor Chen. Ich kann Ihnen versichern, dass ich seither gewissenhaft als Arzt gearbeitet habe. Und warum? Ich wollte ebenso gewissenhaft sein wie dieser guiren . In unserer heutigen Gesellschaft ist vieles fragwürdig geworden, aber es gibt noch gute Parteikader wie Sie. Wenn ich künftig irgendetwas für Sie tun kann, dann lassen Sie es mich bitte wissen. Ein altes Sprichwort sagt: Reicht man dir einen Tropfen Wasser, so grabe nach einer Quelle, um es zu vergelten .«
Und Doktor Hou hatte Wort gehalten. Als Chens Mutter erkrankte, kümmerte er sich rührend um sie. Normalen Leuten war der Zugang zum berühmten Ostchina-Hospital verwehrt, aber Hou als Direktor hatte Mittel und Wege gefunden, ihr dort ein Einzelzimmer zu verschaffen, obgleich sie nur einen leichten Schlaganfall erlitten hatte. Auch hatte er darauf bestanden, dass ihre Reha im Haus durchgeführt wurde.
»Sie haben wirklich alles Menschenmögliche getan, Doktor Hou.«
»Das war doch eine Kleinigkeit. Tantchen kann gern so lange hierbleiben, wie sie möchte. Übrigens ist sie dem Krankenhaus nichts schuldig. Ehrlich gesagt sind uns zahlungskräftige Patienten wie Ihre Mutter besonders willkommen. Einer Ihrer Freunde, ein gewisser Lu, hat bereits eine größere Summe für Tantchen hinterlegt.«
»Überseechinese Lu ist doch wirklich unmöglich«, sagte Chen mit einem verlegenen Lächeln. Dann fiel sein Blick auf die Geschenke auf dem Nachtkästchen. Lu war offenbar nicht der Einzige.
Doktor Hous Mobiltelefon klingelte. Er warf einen Blick darauf, nahm den Anruf aber nicht entgegen. »Schon wieder eine Sitzung, an der ich teilnehmen muss. Aber machen Sie sich keine Sorgen, Oberinspektor Chen. Ich schaue regelmäßig nach ihr.«
Seine Mutter setzte sich auf und sah dem Arzt nach. Dann wandte sie sich an ihren Sohn. »Du solltest jetzt auch wieder an deine Arbeit gehen. Die Leute reden viel Schlechtes über Polizisten, aber mein Sohn ist ein gewissenhafter Beamter. Und Gutes wird vergolten. Das liegt in unserem Karma beschlossen.«
Chen nickte.
»Ach, bevor ich es
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