Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
99 Särge: Roman (German Edition)

99 Särge: Roman (German Edition)

Titel: 99 Särge: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Xiaolong Qiu
Vom Netzwerk:
vergesse. Hier ist ein Geschenkgutschein, den ein anderer deiner Freunde hiergelassen hat. Ich denke, du weißt, wie du damit umzugehen hast.«
    Er nahm die Karte und runzelte die Stirn, als er den Betrag sah – zwanzigtausend Yuan.
    Für den erfolgsverwöhnten Bauunternehmer bedeutete eine solche Summe nichts. Er hatte Chen schon bei früheren Ermittlungen geholfen, und Chen war ihm bei seinem New-World-Projekt behilflich gewesen. Und weil Gu sich nun als Chens Freund betrachtete, sprach auch er Chens Mutter mit »Tantchen« an.
    Wäre sie wirklich Gus leibliche Tante, so wäre ein solches Geldgeschenk vielleicht gerechtfertigt gewesen, so aber ging es wohl eher darum, den Kontakt zu Chen zu pflegen. Trotzdem war es eine aufmerksame Geste von Gu. Und schlau eingefädelt, denn da der Gutschein nicht Chen, sondern seiner Mutter geschenkt worden war, konnte der Oberinspektor ihn nicht einfach zurückgeben.
    »Ich werde schon einen Weg finden, Mutter.«
    Sein Mobiltelefon klingelte. Es war Hauptwachtmeister Yu. Chen entschuldigte sich und ging aus dem Zimmer.
    Yu berichtete ihm von der Sitzung im Präsidium, die eben zu Ende gegangen war. Parteisekretär Li weigerte sich, Hauptwachtmeister Weis Tod als Betriebsunfall zu betrachten. Der Beamte war zwar während laufender Ermittlungen gestorben, doch niemand wusste, was genau er an jenem Morgen an dieser Kreuzung zu suchen hatte. Li behauptete, er hätte genauso gut geplant haben können, sich für einen Abendkurs bei der Volkshochschule um die Ecke einzuschreiben.
    Für Chen kam dieser Sinneswandel seines Vorgesetzten nicht überraschend. Zunächst war Li über den Tod eines Kollegen zweifellos ebenso schockiert und betrübt gewesen wie jeder andere im Präsidium. Wei war ein altgedienter Beamter, der jahrelang hart gearbeitet hatte. Doch seinen Tod als Mordfall zu betrachten, hätte die Situation ungemein erschwert und ungeahnte Auswirkungen auf den Fall Zhou gehabt. Weitere Spekulationen darüber waren keineswegs im Interesse der Partei.
    »Seine Frau ist krank und hat keine Arbeit, der Sohn geht noch in die Mittelschule«, schloss Yu düster.
    Chen begriff sofort, was sein Partner damit sagen wollte. Wenn Wei Opfer eines Verkehrsunfalls geworden war, würde es für seine Hinterbliebenen keine Kompensation geben.
    Als er, das Telefon noch in der Hand, ins Krankenzimmer zurückkehrte, fühlte er sich erst recht schuldig. Wäre er dieser Sitzung nicht vorsätzlich ferngeblieben, hätte er sich für Wei und dessen Familie einsetzen können, auch wenn das vermutlich im Ergebnis keinen Unterschied gemacht hätte, es sei denn, er könnte beweisen, dass Wei im Umfeld des Wenhui-Gebäudes einer Spur nachgegangen war.
    Was hatte er dort gesucht?
    »Ich muss jetzt gehen, Mutter«, sagte Chen. »Im Präsidium brauchen sie mich. Ich schaue bald wieder bei dir vorbei.«

13
    Am nächsten Morgen ging Chen die Pingliang Lu im Bezirk Yangpu entlang.
    Der Adresse entnahm er, dass die Weis in einer der alten Gassen wohnten. In den frühen Sechzigerjahren waren hier sogenannte Arbeiterwohnungen gebaut worden, mit Sicherheit eine Verbesserung im Vergleich zu den Slums der Vorkriegszeit. Doch dann waren die Wohnungen immer weiter unterteilt worden, bis jeder einzelne Raum der ursprünglichen Vierzimmerwohnungen von einer Familie bewohnt wurde. Und alle benutzten Küche und Toilette gemeinsam.
    Inzwischen nagte auch an diesen Wohnblocks der Zahn der Zeit – zwischen den Wolkenkratzern, die um sie herum in den Himmel wuchsen, wirkten sie schäbig. Als Chen die Gasse betrat, in der an einem Gewirr aus Bambusstangen Wäsche trocknete, fühlte er sich seltsam desorientiert. Er schien in ein impressionistisches Bild geraten zu sein, auf dem flirrend bunte Farbflecken den Himmel überzogen. Ein Fahrrad mit großem Bambuskorb, kaputte Öfen sowie improvisierte, mit Plastik abgedeckte Geräteschuppen und andere legale oder illegale Anbauten schienen aus den Gebäuden herauszuwachsen und machten die Gasse noch enger.
    Chen wähnte sich in einer anderen Stadt, in einer anderen Zeit. Gleichermaßen schien sein Eindringen befremdlich auf die Bewohner zu wirken: Ein alter Mann hockte, den nackten Rücken gegen die Wand gestützt, am Boden und blickte verwundert zu ihm auf, ein anderer saß rittlings auf einem Holzschemel, das eine Bein zu einer Dehnübung gestreckt, und blockierte so unabsichtlich den Durchgang, ein paar Schritte weiter aß jemand seinen Reis aus einer großen Schüssel, ein anderer

Weitere Kostenlose Bücher