99 Särge: Roman (German Edition)
hatte es sich auf einer durchgelegenen Bambusliege bequem gemacht, wieder ein anderer schuppte Fisch in der mit Moos bewachsenen Gemeinschaftsspüle. Obgleich Chen noch nie hier gewesen war, kam ihm vieles auf seltsame Weise vertraut, ja anheimelnd vor. Er hatte das Gefühl, am Ende der Gasse würde jemand auf ihn warten.
Vor einer Tür mit unzähligen abblätternden Farbschichten – die letzte war rot gewesen – blieb er stehen und klopfte. Dieser Besuch war ihm unangenehm, ließ sich aber nicht aufschieben.
Eine ausgemergelte Frau mit verquollenen Augen und grau meliertem Haar öffnete die Tür. Er betrat einen kleinen, schäbigen Raum, der nur mit dem Notwendigsten ausgestattet war, allein das in schwarz gerahmte Bild von Wei in Polizeiuniform wirkte neu. Die Frau schien verunsichert, als sie Chen erkannte.
»Ach, Ober…, äh, Parteisekretär Chen.«
»Sagen Sie doch Chen zu mir, Frau Wei.«
»Dann bin ich Guizhen.«
Sie hatte Mühe, eine Sitzgelegenheit für ihn zu finden. Eines der beiden Betten, die in dieses allenfalls fünfzehn Quadratmeter große Zimmer gequetscht waren, musste ihrem Sohn gehören, der bereits die Oberstufe besuchte. Wei hatte es sich nicht leisten können, seiner Familie eine größere Wohnung zu kaufen, und nun waren die Aussichten auf eine Verbesserung der Wohnsituation endgültig dahin.
Guizhen hatte früher für minimalen Lohn als Näherin für eine Nachbarschaftskooperative gearbeitet, aber die war inzwischen pleitegegangen, weshalb die Familie ausschließlich von Weis Gehalt lebte. Nach seinem plötzlichen Tod würde Guizhen sich um staatliche Unterstützung bemühen müssen, die, wenn sie überhaupt genehmigt wurde, erbärmlich niedrig war.
Chen dachte wieder an die Kompensation, doch an den Regeln war nicht zu rütteln; falls Wei während einer privaten Angelegenheit Opfer eines Verkehrsunfalls geworden war, wäre die Familie auf Spenden der Kollegen angewiesen.
»Wie Sie vielleicht wissen, Guizhen, bin ich etwa zur gleichen Zeit wie Ihr Mann zur Polizei gekommen. Weil er vorher als gebildeter Jugendlicher nach Jiangxi aufs Land geschickt wurde, war er älter als ich. Unser erstes Jahr verbrachten wir gemeinsam bei der Verkehrspolizei, daran erinnere ich mich noch gut. Dann ist er zur Mordkommission versetzt worden und hat dort bis heute hervorragende Arbeit geleistet.« Chen machte eine kurze Pause und fuhr dann fort: »Diesmal war Wei mit wichtigen Ermittlungen betraut, zu denen ich als Berater hinzugezogen wurde. Aber eigentlich war es ein Fall für die Mordkommission, deshalb brauchten wir uns nicht jeden Tag zu treffen, auch am Tag des Unfalls haben wir uns nicht gesehen. Ich weiß daher nicht, was er vorhatte und warum er sich ausgerechnet an dieser Kreuzung aufhielt.«
»Er hat die Wohnung schon in aller Frühe verlassen, sagte aber nicht warum, er hat nie mit mir über seine Polizeiarbeit gesprochen.«
»Ist Ihnen irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen?«
»An dem Morgen hat er sich anders gekleidet als sonst. Normalerweise legte er wenig Wert auf sein Äußeres, aber manchmal hat er sich, wenn es die Arbeit verlangte, sehr sorgfältig gekleidet.«
Das tat auch Chen gelegentlich. Und wenn Wei das Hotel aufsuchen wollte, so leuchtete die Wahl seiner Kleidung durchaus ein.
»Hat er vielleicht etwas erwähnt, das mit dem Ort des Unfalls in Zusammenhang stand? Etwas, das er in dieser Gegend zu erledigen gedachte, oder jemanden, den er dort besuchen wollte?«
»Nicht, dass ich wüsste. Nein.«
»Hat er sich tagsüber telefonisch bei Ihnen gemeldet?«
»Nein, ich habe gegen Abend versucht, ihn auf dem Handy zu erreichen, aber er hat nicht reagiert. Ich dachte, er würde vielleicht Überstunden machen. Es kam schon hin und wieder vor, dass er über Nacht im Präsidium blieb. Aber als ich am Morgen noch immer nichts von ihm gehört hatte, habe ich dort angerufen.«
»Auf dem Präsidium war die Rede davon, dass er sich vielleicht für Abendkurse eingeschrieben haben könnte. Es gibt dort in der Nähe eine Volkshochschule.«
»Ich weiß es natürlich nicht, aber ich halte das für unwahrscheinlich«, erwiderte sie und fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. »Er hat all die Jahre so hart gearbeitet und es trotzdem nicht weiter als bis zum Hauptwachtmeister gebracht, nur weil er keinen Uniabschluss hatte. Wir sind beide, was man damals ›gebildete Jugendliche‹ nannte, und haben unsere besten Jahre während der Kulturrevolution verschwendet. Darüber hat
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