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99 Särge: Roman (German Edition)

99 Särge: Roman (German Edition)

Titel: 99 Särge: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Xiaolong Qiu
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Lieblingslokal Ihres Sohnes sei. Das hier ist von mir. Beinahe hätte ich vergessen, dass ich den Gutschein damals für Ihren Sohn gekauft habe. Also nehmen Sie ihn bitte an.«
    »Oberinspektor Chen …«
    Er ging ohne ein Wort und wartete ihre Antwort nicht ab.
    Als er das Ende der Gasse erreicht hatte, hörte er eilige Schritte hinter sich. Es war Guizhen, den Umschlag noch immer in der Hand.
    »Aber das ist doch viel zu viel«, stieß sie hervor.
    »Reden wir nicht mehr darüber. Wie schon gesagte, Sie tun mir einen Gefallen damit. Dass ich den Gutschein von meinem reichen Freund bekommen habe, hat letztlich mit meiner Position zu tun. Ich würde Weis Einschätzung nicht gerecht werden, wenn ich es behielte.«
    »Aber ich sollte nicht …« Wieder brachte sie ihren Satz nicht zu Ende. Dann sagte sie plötzlich: »Sie haben doch gefragt, ob mir an dem Morgen etwas Ungewöhnliches an Wei aufgefallen ist.«
    »Ja?«
    »Bevor er das Haus verließ, hat er immer wieder ein Foto in der Wenhui betrachtet, Sie wissen schon, das mit der Schachtel 95 Supreme Majesty. Sogar das Vergrößerungsglas hat er zu Hilfe genommen. Er hat sonst nie mit mir über seine Arbeit gesprochen, aber an jenem Morgen hat er mir das Bild gezeigt und mich gefragt, ob ich die Aufschrift auf der Zigarettenschachtel lesen könne.«
    »Und? Konnten Sie?«
    »Nein, das war unmöglich. Sie war winzig klein und unscharf.«

14
    Der Samstag begann für den Oberinspektor mit einer Veranstaltung, die eigentlich nicht in den Aufgabenbereich eines Polizisten fiel.
    Am Abend zuvor hatte ihn Hauptwachtmeister Yu angerufen und erklärt: »Du würdest uns einen großen Gefallen tun, wenn du morgen zum Longhua-Tempel kommen könntest – nur für zehn oder fünfzehn Minuten, länger wird es nicht dauern. Peiqin wollte nicht, dass ich dir davon erzähle, aber es handelt sich um eine buddhistische Zeremonie für ihre verstorbenen Eltern. Ihr Vater wäre in diesem Jahr hundert Jahre alt geworden. Ich weiß, das ist nicht das Richtige für einen Parteikader. Aber ein Cousin von ihr hielt neulich auch so eine Zeremonie ab, er hat Unmengen dafür ausgegeben und lauter wichtige Leute eingeladen, da dachte ich …«
    Nach buddhistischer Vorstellung geht der Verstorbene hundert Jahre nach dem Tag seiner Geburt in eine neue Existenz über. Dann halten die Kinder, vorzugsweise in einem Tempel, einen besonderen Ritus für ihn ab, der für die neue Inkarnation von großer Bedeutung ist. Danach gibt es keine weiteren Verpflichtungen mehr für die Hinterbliebenen in der Welt des roten Staubes.
    Chen fragte sich, ob Peiqin wirklich an diese Dinge glaubte. Doch das war egal, solange ihre Verwandten dies taten. Es war selten, dass sein Partner Yu ihn um einen Gefallen bat, und diese Bitte wollte der Oberinspektor ihm nicht abschlagen.
    Vielleicht würde es ihm sogar guttun, aus dem deprimierenden Trott der Polizeiarbeit herauszukommen. Er hatte einen Großteil des Freitags auf einer Sitzung des Shanghaier Parteikomitees verbracht. Als neues Mitglied musste er zwar nicht viel sagen, aber die politischen Reden der führenden Mitglieder hatten ihn nicht nur gelangweilt, sondern auf seltsame Weise erschöpft.
    Qiangyu, der Generalsekretär, hatte in endlosen Ausführungen die Fortschritte beschworen, die die Stadt Shanghai unter der korrekten Führung des Parteikomitees gemacht hatte. Chen war klar, dass man hier zwischen den Zeilen lesen musste, gab den Versuch jedoch bald auf, zumal ein dumpfer, bohrender Kopfschmerz ihn plagte.
    Gegen eine Abwechslung war also nichts einzuwenden, vor allem wenn er Peiqin damit einen Gefallen tun konnte.
    »Natürlich komme ich. Du kannst auf mich zählen, Yu.«
    Früh am Samstagmorgen stieg er in den Fond eines Mercedes des Präsidiums und ließ sich vom dürren Wang zum Tempel chauffieren.
    »Das wird den Yus Gesicht geben und die Verwandtschaft beeindrucken«, bemerkte der dürre Wang.
    Chen kam zu dem Schluss, dass die Menschen in Zeiten des spirituellen Vakuums an irgendetwas glauben mussten, ganz egal, an was. Da es in China nicht wie in den westlichen Religionen eine Vorstellung von Himmel und Hölle gibt, empfinden es die Menschen als tröstlich, etwas für ihre toten Angehörigen und deren nächste Existenz tun zu können.
    Ironischerweise wurde in dieser materialistischen Gesellschaft für Tempelzeremonien genauso geworben, wie für jedes andere Produkt: Je mehr Sie investieren, desto besser stehen Sie da . In diesem Wettstreit konnten die

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