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99 Särge: Roman (German Edition)

99 Särge: Roman (German Edition)

Titel: 99 Särge: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Xiaolong Qiu
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Yus nicht mithalten. Deshalb hatte Hauptwachtmeister Yu, der selbst kein Anhänger des Buddhismus war, den Oberinspektor als hochrangigen Parteifunktionär dazugeladen. Seine Anwesenheit würde den Yus Gesicht geben, und das war für die Shanghaier, wie Chen wusste, ganz besonders wichtig.
    »Wir sind da. Longhua-Tempel«, verkündete der dürre Wang.
    Infolge der enormen Ausdehnung Shanghais befand sich der Tempel, der früher am Stadtrand gelegen hatte, jetzt nicht mehr so weit draußen und war zu einer der wichtigsten und größten Tempelanlagen der Stadt geworden.
    Chen betrat den riesigen Vorhof, der zu einer imposanten Halle mit goldenen, vom Rauch der Räucherstäbchen umhüllten Buddhastatuen führte. In den beiden Seitenflügeln waren kleinere und größere Räume eingerichtet worden, die man für Zeremonien mieten konnte und die dem Tempel beträchtliche Summen einbrachten.
    »Das ist Chen Cao, Parteisekretär des Shanghaier Polizeipräsidiums und Mitglied des Parteikomitees der KP Shanghai.« Von seinem Erscheinen nicht wirklich überrascht, stellte Peiqin ihn mit lauter Stimme ihren Verwandten vor. »Sicher habt ihr alle schon von dem berühmten Oberinspektor und Leiter der Sonderkommission gehört, er ist Yus Chef.«
    Es war das erste Mal, dass Peiqin seine neuen Titel gebrauchte, und ihm war auch klar, warum.
    Wie auf ein Stichwort verkündete der dürre Wang, der einen großen Kranz mit weißer Schleife trug: »Der ist von unserem Parteisekretär.«
    »Yu und Peiqin sind meine Freunde«, erklärte Chen Peiqins Verwandtschaft, ehe er sich vor den schwarzgerahmten Fotos verbeugte, die, flankiert von brennenden Kerzen, hinter allerlei Shanghaier Delikatessen und Früchten aufgestellt waren.
    Yu und Peiqin erwiderten die Verbeugung als Zeichen ihrer Dankbarkeit.
    Chen, ein Bündel brennende Räucherstäbchen in der Hand, wiederholte die ehrfurchtsvolle Verbeugung drei Mal.
    Die Leute im Raum schienen den Atem anzuhalten und starrten ihn gebannt an.
    Während Chen seine Räucherstäbchen zu den schon vorhandenen ins Räucherfass steckte, bemerkte er neben dem Altar einige große Kartons, die vermutlich Totengeld für die Verstorbenen enthielten. Früher hatten die buntbedruckten Geldscheine noch in roten Umschlägen Platz gefunden, jetzt waren es bemalte Kartons, die an Schatztruhen erinnerten, und der »Erhöhung des Lebensstandards« der Toten dienten. Chen fragte sich, ob sein Kranz, der ganz allein dort lehnte, vielleicht fehl am Platz war. Da erst bemerkte er, dass der Kranz mit mehreren, aus Silberfolie gefalteten Formen verziert war, die an Silberbarren erinnerten. Also trug auch er symbolisch zur Verbesserung des Lebensstandards der Verstorbenen bei.
    »Ich weiß nicht, wie ich dem Parteisekretär danken soll«, meinte Yu.
    »Sag das nicht, Yu. Ich bin froh, dass ich Tantchen und Onkel auf diese Weise meine Referenz erweisen kann.«
    Genau wie die Anrede »Parteisekretär« war auch die vertrauliche Bezeichnung »Onkel und Tante« für die Ohren der anderen bestimmt. Aber Chen war seine Anwesenheit in dem Raum zunehmend peinlich, deshalb trat er zu einem Mönch, der an einem Beistelltischchen dicke rote Umschläge sortierte. Er hätte ihn gern in ein Gespräch über Buddhismus verwickelt, doch der Mönch starrte ihn so entgeistert an, als sei er ein Außerirdischer, und erwiderte nichts.
    Da kam Peiqin zu ihm herüber und flüsterte ihm zu: »Ich hoffe, mit diesem Ritual meine Schuld ein wenig abzutragen.«
    Das war also einer der Gründe, warum sie diese Zeremonie abhalten ließ. Ihr Vater war in politische Schwierigkeiten geraten, als sie noch in die Grundschule ging, und kam später fern von zu Hause in einem Arbeitslager ums Leben. Während der Kulturrevolution starb dann auch ihre Mutter. Peiqin sprach kaum über ihre Eltern. Nur einmal hatte sie Chen gegenüber erwähnt, dass sie ihnen als Kind insgeheim Vorwürfe gemacht habe, denn damals konnte der familiäre Hintergrund Leben und Karrierechancen der Kinder zerstören.
    In Reih und Glied betraten jetzt einige Mönche den Raum, und Chen begrüßte sie wie die anderen mit einer Verbeugung. Zu seiner Überraschung verlas der Obermönch als Erstes seinen Namen samt Titeln, er stand offenbar ganz oben auf der Liste, so als fühlten auch die Toten sich durch seinen Besuch geehrt.
    Ein anerkennendes Raunen ging durch den Raum. Manche von Peiqins Verwandten unterhielten sich flüsternd miteinander, und eine ihrer Tanten, eine flotte alte Dame mit

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