99 Särge: Roman (German Edition)
Erwähnung der Belohnung hellte sich ihr Gesicht auf.
»Verstehe. Sie wird bestimmt kommen.«
Er fragte sich, was die Frau wohl von ihm hielt, aber letztlich kümmerte es ihn nicht.
Ein Mann mittleren Alters in einem verwaschenen blauen Gelehrtengewand erschien in der Tür, wild gestikulierend murmelte er literarische Zitate, die immer auf das Gleiche hinausliefen: »Wahrlich, wenig ist mir geblieben, sehr wenig.« Im Original bezog sich das auf die Erbsen in der Hand des verarmten Protagonisten. Chen winkte den Kong-Yiji-Darsteller weiter, schloss die Tür und fragte sich, was Lu Xun von alldem gehalten hätte.
Etwa zwanzig Minuten später klopfte es leise an der Tür.
»Kommen Sie herein, Fang.«
Eine Frau in schlichter weißer Bluse und schwarzer Hose trat unsicher ein. Chen schätzte sie auf Anfang oder Mitte dreißig. Sie war schlank und hatte ein ovales Gesicht mit mandelförmigen Augen und einem schwarzen Muttermal auf der Stirn. Ihre fahrigen Bewegungen ließen sie unsicher wirken.
Chen stand auf, bot ihr einen Platz an und wartete, bis die Bedienung die kalten Vorspeisen gebracht und ihnen Reiswein eingeschenkt hatte.
Er nahm einen Schluck aus seiner Schale. Der Wein war überraschend süß und mild. Auch die Gerichte sahen appetitlich aus: geräucherte Ente, Weißfisch mit Frühlingszwiebeln, Stinkender Tofu, in Salzwasser gekochte Flusskrebse, fermentierte Wintermelone und getrocknete Bambusschösslinge. Dank Lu Xun hatten die einheimischen Spezialitäten offenbar ihren ursprünglichen Geschmack bewahrt, auch wenn es dabei nur ums Geschäft ging.
»Lassen Sie sich Zeit mit den warmen Gerichten. Wir unterhalten uns erst eine Weile«, sagte er zu der Bedienung. »Und bitte klopfen Sie, bevor Sie hereinkommen.«
»Natürlich.«
Kaum hatte die Frau den Raum verlassen, legte er seine Visitenkarte vor Fang auf den Tisch.
»Danke, dass Sie meiner überstürzten Einladung gefolgt sind, Fang. Ich bin Oberinspektor Chen Cao, Vizeparteisekretär der Shanghaier Polizei und Mitglied des Zentralkomitees der Stadt.«
Seine Titel waren nicht alle auf der Visitenkarte verzeichnet, aber im Moment würden sie ihm vielleicht weiterhelfen.
»Ich habe schon von Ihnen gehört, Oberinspektor Chen, aber …«
»Ich schlage vor, wir öffnen die Tür, damit wir die Berge betrachten können. Offiziell nehme ich an einem Literaturfestival teil, aber das ist nur ein Vorwand.«
»Aber wieso? Jemand wie Sie …« Sie sah ihn ungläubig an und verstummte dann.
»Ich bin in Sachen Zhou hier.«
»Das dachte ich mir.«
»Glauben Sie denn, dass Zhou Selbstmord begangen hat?«
»Spielt es eine Rolle, was ich glaube?«
»Für mich schon. Vielleicht erinnern Sie sich noch an Hauptwachtmeister Wei, ein mir nahestehender Kollege.«
»Ja.«
»Haben Sie auch gehört, dass er tot ist? Er wurde von einem Auto überfahren, einen Tag nachdem er Sie befragt hat.«
»Warum?«, stammelte sie und erbleichte.
»Ich persönlich glaube nicht an einen Verkehrsunfall – nicht während der Ermittlungen zu Zhous Tod. Und wegen dieser Ermittlungen bin ich hier, aber auch wegen Hauptwachtmeister Wei.«
Sie erwiderte nichts.
»Mit dem shuanggui aufgrund der Korruptionsvorwürfe gegen Zhou hatte Wei nichts zu tun, aber offenbar haben seine Untersuchungen zu den Todesumständen den fatalen Unfall provoziert. Ich will Gerechtigkeit für Wei. Und ich gehe davon aus, dass auch Sie Gerechtigkeit für Zhou wollen, sofern er denn ermordet wurde.«
Sie nickte, ihre Finger berührten die Weinschale, ohne sie jedoch zum Mund zu führen.
»Danke, dass Sie mir das erzählt haben«, sagte sie, offensichtlich um Fassung bemüht. »Ja, ich möchte Gerechtigkeit für ihn, falls er ermordet wurde. Aber ich bin nur die Sekretärin. Ich stehe unter großem Druck, man zwingt mich, Dinge zu behaupten, die ich nicht wirklich weiß. Deshalb habe ich mich für ein paar Tage nach Shaoxing zurückgezogen. Das ist alles, was ich Ihnen dazu sagen kann.«
»Würden Sie hier bloß ein paar Ferientage verbringen, würde man wohl nicht so fieberhaft nach Ihnen suchen. Sie sagen, Sie seien nur seine Sekretärin, und das erst seit zwei Jahren. Wieso ist dann eine so luxuriöse Villa unter Ihrem Namen im Grundbuch verzeichnet? Ich habe bereits mit Ihren Eltern gesprochen, die haben mir erzählt, wie es Ihnen erging, nachdem Sie aus dem Ausland zurückkehrten. Wir müssen das nicht noch einmal durchgehen. Und falls nötig, kann die Bank uns Einblick in die finanziellen
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