99 Särge: Roman (German Edition)
kürzlich gelesen hatte. Es ging um eine aufschlussreiche Bemerkung, die der Vorsitzende Mao auf der Höhe der Rechtsabweichler-Debatte in den Fünfzigerjahren über Lu Xun gemacht hatte. Auf die Frage, was der berühmte Autor heute wohl täte, sagte Mao schlicht, dass der vermutlich hinter Schloss und Riegel säße.
Dann erhielt Chen einen weiteren Anruf von Tang.
»Ja, es gibt eine eingetragene Immobilie unter dem Namen Fang«, bestätigte der Kollege. »Eine Villa, nicht weit vom Lu-Xun-Haus entfernt.«
»Wie lautet die Adresse?«
»Ich schicke sie Ihnen gleich per SMS . Es gab auch einen Telefonanschluss, aber der wurde vor einem halben Jahr abgemeldet. Das muss allerdings nichts heißen; immer mehr Leute benutzen jetzt ausschließlich das Mobiltelefon. Die Villa scheint die meiste Zeit leerzustehen, aber nach Aussagen des Sicherheitsdienstes ist vor ein paar Tagen eine Frau eingezogen. Vermutlich handelt es sich um Fang. Der Wachmann ist ziemlich sicher, dass sie sich derzeit in dem Haus aufhält.«
»Gut. Bin schon unterwegs«, entgegnete Chen knapp.
Dass die Villa unter Fangs Namen eingetragen war, wunderte Chen nicht. Entweder war Zhou vorsichtig oder aber so verliebt, dass er das Anwesen tatsächlich für sie gekauft hatte.
Die Wohnanlage befand sich nur zwei Straßen hinter dem Lu-Xun-Haus. Chen konnte schon aus der Ferne eine Reihe frisch gedeckter Dächer in der Sonne glänzen sehen.
Es war jedoch nicht ausgeschlossen, dass Fang beziehungsweise ihr Heim unter Beobachtung stand. Wenn er sie dort aufgespürt hatte, konnten andere das auch. Dennoch musste er sie aufsuchen, sicherheitshalber blickte er sich noch einmal um, bevor er in ihre Straße einbog.
19
Als Chen sich umwandte, bemerkte er das Kong-Yiji-Restaurant. Kong war ein weiterer Protagonist aus einer Erzählung von Lu Xun. Dieser Gelehrte war völlig am Boden zerstört, nachdem er gegen Ende des Kaiserreichs durch die Beamtenprüfung gefallen war. Er konnte sich den Neuerungen seiner Zeit einfach nicht anpassen und bestand in der Art eines Don Quixote auf den althergebrachten Werten. Schließlich flüchtete er sich in den Rausch und vertrank sein Geld in einer kleinen Taverne, wo er auf gelehrte Weise vor sich hin schwadronierte.
In der Geschichte handelte es sich um eine heruntergekommene Schenke, in der Habenichtse verkehrten, die sich allenfalls einen Becher im Stehen leisten konnten, zu dem, wenn sie Glück hatten, ein Tellerchen mit aromatisierten Erbsen gereicht wurde. Die bessergestellten Gäste verzehrten in einem Nebenraum ihre Gerichte und den Wein genüsslich im Sitzen.
Das neue Restaurant war riesig und mit Utensilien dekoriert, wie man sie aus Lu Xuns Geschichten kannte: ein alter Weinwärmer, angeschlagene Schalen und Teller und eine Schiefertafel, auf der mit Kreide geschrieben stand: »Kong Yiji ist noch 19 Kupferkäsch schuldig.«
»Geben Sie mir ein Separee«, wies Chen die Bedienung an, »ein kleines.«
»Für zwei Personen?«
»Ja, für zwei. Sie wissen schon, was ich meine.«
»Aber natürlich, wir haben genau, was Sie wünschen.«
Die Bedienung führte ihn in einen gemütlichen Raum mit rosafarbener Blümchentapete. Neben Tisch und Stühlen gab es hier noch eine Couch und ein Beistelltischchen, auf dem sich die Statuette einer nackten Venus räkelte. All das hatte nichts mehr mit dem Protagonisten der Erzählung zu tun, der als Bücherwurm kein Interesse an einem romantischen Stelldichein dieser Art gehabt hätte. Die Bedienung reichte Chen eine Speisenkarte mit rosafarbenem Umschlag.
»Sind das die Spezialitäten Ihres Restaurants?« Chen deutete auf die Karte.
»Ja. In den Separees haben wir eine Mindestverzehrsumme von siebenhundert Yuan. Ich könnte Ihnen …«
»In Ordnung, was immer Sie empfehlen, aber einige lokale Spezialitäten sollten dabei sein.«
Dann nahm er sein Notizbuch heraus und kritzelte ein paar Worte aufs Papier: »Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf darüber, wer ich bin. Ich weiß, dass Sie in Schwierigkeiten sind, und möchte Ihnen helfen. Kommen Sie ins Kong-Yiji-Restaurant. Ich erwarte Sie in Raum 101.«
Er riss die Seite heraus, steckte sie in einen Briefumschlag, den er adressierte, und gab ihn der Bedienung.
»Bitte bringen Sie das zu der angegebenen Adresse, und übergeben Sie es der Adressatin persönlich. Hier sind zehn Yuan. Wenn sie kommt, erhalten Sie weitere zwanzig von mir.«
Die Bedienung musterte ihn versonnen von oben bis unten und nickte dann zustimmend. Bei der
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