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99 Särge: Roman (German Edition)

99 Särge: Roman (German Edition)

Titel: 99 Särge: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Xiaolong Qiu
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Shaoxing geflohen. Sie brauchte eine Verschnaufpause, um in aller Ruhe über ihre Lage nachzudenken.
    »Ich dachte, hier würde mich keiner finden«, schloss sie.
    Chen fiel auf, dass sie die Ereignisse ganz aus ihrer Perspektive erzählte. Zhou erwähnte sie dabei so wenig wie möglich, wenngleich sie die Beziehung zu ihm nicht verschwieg. Doch was konnte Jiang von ihr wollen, wo er doch alles daransetzte, Zhous Tod als Selbstmord erscheinen zu lassen? Was war also der wahre Grund für ihre überstürzte Flucht? Vermutlich der Druck, aber sie musste sich doch darüber im Klaren sein, dass dies ihre Lage nur noch schlimmer machte.
    »Und was soll jetzt werden, Fang?«
    »Vielleicht könnte ich wieder nach England gehen. Aber dazu müsste ich das Haus hier verkaufen.«
    »Glauben Sie denn, dass Sie noch außer Landes kommen? Meines Wissens haben alle Grenzstationen Ihr Bild und Ihre Passnummer vorliegen.«
    Darauf entgegnete sie nichts.
    »Reden wir noch ein bisschen über Zhou.«
    »Was kann ich Ihnen schon sagen? Jiang glaubt ebenfalls, dass ich irgendwelche Geheimnisse über ihn wüsste. Dabei hat Zhou immer wieder betont, je weniger ich wisse, desto besser. Ich nehme an, er wollte dabei wirklich mein Bestes.« Ihre Stimme schwankte. »Und dann sagte er noch, alles komme nur daher, dass ihn dieses kleine Mädchen in der Gasse immer so nett angelächelt habe, damals, als er noch für siebzig Mao am Tag in der Produktionsgenossenschaft schuftete und völlig am Boden war.«
    »Genau wie bei Jia Yucun am Beginn des Romans Der Traum der Roten Kammer «, kommentierte Chen, ohne die Assoziation weiter auszuführen. Offenbar hatte auch Zhou eine Schwäche für Schönheit gehabt.
    »Also habe ich mich verhalten, wie es sich für eine Sekretärin geziemt, habe niemals nachgefragt oder mich eingemischt«, fuhr sie fort.
    »Hatte er noch andere Sekretärinnen?«
    »Sie meinen kleine Sekretärinnen? Zumindest nicht in der Behörde. Einige behaupteten allerdings, er hielte mich nur, um von seinen anderen Eskapaden abzulenken. Möglich wäre es, aber ich bezweifle, dass er die Zeit dazu hatte.«
    »Aber als Sekretärin hatten Sie doch sicher Zugang zu vertraulichen Informationen über seine Arbeit.«
    »Er arbeitete hart und stand unter großem Druck«, sagte sie mit erkennbarem Zögern. »Seine Aufgabe war nicht leicht. Offiziell war er für die Land- und Wohnungsbauentwicklung im gesamten Stadtgebiet zuständig, aber es gab da viele andere Beamte, die ebenfalls ein Stück vom Kuchen haben wollten. Seine Arbeit war ein Drahtseilakt. Nehmen Sie nur den Skandal um die Wohnblocks Nr. 8 West. Der Verantwortliche für den Jing’an-Bezirk hat das Grundstück für einen Spottpreis an den Bauunternehmer abgegeben, der daraufhin sofort einen günstigen Kredit bekommen hat, der den Kaufpreis um das Vier- bis Fünffache überstieg. Zhou wusste davon, doch der Bezirksvorsitzende hatte die Zustimmung von Zhous Vorgesetztem in der Stadtregierung bereits erhalten. Was konnte Zhou gegen die Entscheidung einer übergeordneten Stelle unternehmen? Er hat über solche Vorgänge nicht mit mir gesprochen, aber im heutigen China sind sie längst kein Geheimnis mehr.«
    »Ja, von diesem Projekt habe ich gehört. Der Bezirksvorsitzende wurde ebenfalls in Gewahrsam genommen, Zhou hat das aber nicht tangiert, zumindest damals nicht.«
    »Ganz gleich, ob er ein ehrlicher Staatsdiener war oder nicht, zu mir ist er immer gut gewesen«, entgegnete sie mit gesenktem Kopf. »Es ist nicht fair, dass Zhou allein zur Verantwortung gezogen wurde, wo doch alle zusammenhängen wie ein Bündel Krebse.«
    Dann wiederholte sie noch einmal, was sie ihm bereits erzählt hatte, und fügte nichts Neues oder Substanzielles hinzu.
    Aber Chen spürte, dass dies nicht die ganze Wahrheit war. Irgendwie musste er ihren inneren Widerstand brechen.
    »Ich weiß nicht, wie ich Ihnen helfen soll, wenn Sie mir nicht alles erzählen«, erklärte er und zog ohne Vorwarnung den Umschlag von Melong aus der Tasche. »Sehen Sie sich das an.«
    Mit zitternden Händen nahm sie den Umschlag entgegen.
    »Dann waren Sie das also, Oberinspektor Chen?«
    »Was meinen Sie?«
    »Ich habe diese Bilder vor ein paar Tagen erhalten.«
    »Ach, wirklich? Wissen Sie, wer sie Ihnen geschickt hat?«
    »Nein. Offenbar wollen mich alle erpressen oder in Angst versetzen.«
    »Wer sind alle? Erzählen Sie.«
    »An dem Tag, als ich die Bilder erhielt, kam Jiang mit seinen Leuten und sagte, dass ich mit schweren

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