99 Särge: Roman (German Edition)
gern dabei gewesen.« Sheng stellte eine Tasse löslichen Kaffee vor Chen auf den Couchtisch. »Stattdessen war ich hier und habe mich durch eine Liste von Personen gearbeitet, die als Beweismaterial für Zhous Korruptheit Fotos online gestellt haben. Die Fotos seiner Autos und Häuser sind zweifellos echt, man kann diese Leute also nicht wegen übler Nachrede drankriegen. Und ich muss zugeben, dass ich ihr Motiv verstehe. Die Regierung kann natürlich unmöglich einen so großen Personenkreis bestrafen, außerdem sind viele Mitläufer dabei.«
Sheng schien seine Strategie plötzlich geändert zu haben.
»Also …«, begann Chen unverbindlich, um Sheng zum Weiterreden zu animieren.
»Aber der Absender der ersten E-Mail ist zweifellos ein übler Unruhestifter. Die Menschenfleischsuche und das anschließende Trommelfeuer von Online-Posts waren ein gezielter Angriff auf die Partei, weder Zhou noch sonst jemand hatte Zeit, darauf zu reagieren.«
»Bei den vielen korrupten Beamten, die es gibt, werden derartige Internetattacken so bald nicht aufhören«, warf Chen ein.
»Stimmt, neuerdings werden Spezialisten für Menschenfleischsuche sogar zu Stars gekürt.«
»Stars der Internetermittlung?«
»Genau, und ein solcher Star hat Fans. Sobald seine Gefolgschaft entsprechend groß ist, kassiert er sogar Geld von den Websites, auf denen er seine Blogs veröffentlicht«, erklärte Sheng mit einem Kopfschütteln. »Einer dieser Stars heißt mit Vornamen Melong und brüstet sich mit seiner Fähigkeit, das Fabrikat jeder Uhr feststellen zu können, die ein Beamter auf einem Bild in den Medien trägt. Dann stellt er solche Bilder zusammen mit dem Preis der Uhr und den offiziellen Einkünften des Beamten ins Netz.«
»Ich vermute, dass es sich dabei um sehr teure Uhren handelt.«
»Rolex, Cartier, Omega, Tudor, Tissot … was Sie wollen«, erwiderte Sheng mit unverhohlener Frustration. »Erst kürzlich hat er riesiges Aufsehen erregt, indem er eine Liste von mehr als zwanzig Parteikadern veröffentlicht hat, die solche Luxusuhren tragen. Er musste die Bilder nicht einmal mit einem Kommentar versehen. Innerhalb eines Tages sind sie auf allen möglichen Websites und in zahlreichen Blogs aufgetaucht. Das hat eine Massenermittlung mit hunderttausend Beiträgen ausgelöst.«
»Ja, diese Uhren stehen im Widerspruch zu dem, was allenthalben über die hart arbeitenden, genügsamen Kader verbreitet wird.«
»Mag sein, aber das kann zu einem grundsätzlichen Vertrauensverlust in unsere Partei und in das sozialistische System führen. Dagegen müssen wir vorgehen.«
»Melong hat ja eigentlich nichts Strafbares getan, indem er ein paar Zeitungsfotos ins Netz stellte. Eine offene strafrechtliche Verfolgung könnte eher den gegenteiligen Effekt haben.«
»So weit müssen wir gar nicht gehen. Wir haben ihn vielmehr bei einer Tasse Tee gebeten, mit uns zu kooperieren. Er hat uns zugesichert, keine derartigen Posts mehr einzustellen.«
Chen hatte von diesen »Einladungen zum Tee« bereits gehört, sie waren eine unmissverständliche Warnung an den Unruhestifter. Es konnte die Peitsche sein, manchmal aber auch Zuckerbrot.
»Und Sie haben immer noch keine Ahnung, wer das Originalfoto geschickt hat? Ich meine im Fall Zhou?«, fragte Chen.
»Laut Jiang muss der Adressat Zugang zum hochauflösenden Originalfoto gehabt haben – nicht nur zu der in der Zeitung veröffentlichten Version. Andernfalls hätte er solche Details wie den Markennamen auf der Zigarettenpackung gar nicht erkennen können.«
»Das habe ich mir auch schon überlegt«, sagte Chen. »Dann muss es also jemand aus Zhous unmittelbarem Umfeld gewesen sein.«
»Oder jemand, der sich Zugang zu Insiderinformationen verschafft hat. Ein Hacker, so wie der Betreiber dieser Website. Momentan überprüfen wir seinen Hintergrund.« Mit ernster Miene fuhr Sheng fort: »Und was das unmittelbare Umfeld anbelangt, so spricht das Verschwinden von Fang, Zhous Sekretärin, ja für sich.«
»Moment, das verstehe ich nicht ganz. Inwiefern könnte sie von einer Weitergabe des Fotos profitiert haben? Zhou hat ihr doch aus der Klemme geholfen und ihr einen sicheren, gutbezahlten Arbeitsplatz verschafft.«
»Aber Sie haben doch bestimmt von der heimlichen Beziehung der beiden gehört.«
»Nach den Bildern zu urteilen, die Hauptwachtmeister Wei seiner Mappe beigelegt hat, ist sie nicht gerade eine Schönheit und auch schon Mitte dreißig. Man würde doch eher erwarten, dass Zhou sich mit
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