99 Särge: Roman (German Edition)
dass Sie mich zu sich gebeten haben, um über unser gemeinsames Ziel zu sprechen, auch wenn wir die Sache aus unterschiedlichen Blickwinkeln sehen.«
»Ich bin froh, dass Sie das sagen, Oberinspektor Chen.«
»Glauben Sie denn wirklich, dass das Team aus Peking nur wegen einer kleinen Nummer wie Zhou hergeschickt wurde?«
»Nein, das nicht …«, entgegnete Sheng und fügte dann zögerlich hinzu: »Ich habe da etwas gehört … Angeblich soll es zwischen Peking und Shanghai Differenzen geben.«
»Wie in dem Lied ›Ich weiß nicht, woher der Wind weht‹.« Chen senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Ich habe heute eine Mail aus Peking erhalten.«
»Aus Peking?«
»Er hat ein Gedicht von Wang Yangming zitiert. Soweit ich es verstehe, lautet die Botschaft, dass uns die Kleinigkeiten vor unserer Nase nicht vom großen Ganzen ablenken sollen.«
»Sie brauchen nicht konkreter zu werden«, erwiderte Sheng, er fragte nicht einmal nach, wer mit »er« gemeint war.
In dem Moment unterbrach sie das Klingeln von Shengs Telefon. Chen stand auf, um zum Rauchen auf den Balkon zu gehen. Kurz vor der Tür hielt er jedoch inne. Shengs Antworten hatten mehrmals den Namen Fang enthalten. Chen verlangsamte seinen Schritt, tat so, als würde er nach seinen Streichhölzern suchen, und ging dann zurück zum Couchtisch, um sie zu holen. Dabei schnappte er weitere Gesprächsfetzen auf.
»Shaoxing oder in der näheren Umgebung … öffentliche Telefonzelle … ihre Eltern wissen von nichts …«
Chen zündete sich eine Zigarette an, trat auf den Balkon und nahm einen tiefen Zug. Die Stadt reichte bis hier herauf, alte und neue Hochhäuser dräuten über dem Viertel.
Als er ins Zimmer zurückkam, hatte Sheng das Telefongespräch beendet und war dabei, frischen Kaffee für den Oberinspektor zuzubereiten.
Auf den Anruf ging er nicht weiter ein, offenbar war er sich sicher, dass Chen mit den wenigen aus dem Zusammenhang gerissenen Äußerungen nichts würde anfangen können.
Doch Chen wusste, was er zu tun hatte.
22
Zwanzig Minuten später betrat Chen eine öffentliche Telefonzelle an der Yan’an Lu, sah sich ein paarmal um und wählte dann die Nummer des Prepaid-Handys, das er Fang gegeben hatte.
Als sie sich meldete, herrschte er sie ohne Begrüßung an: »Ich habe Ihnen doch gesagt, Sie sollen Ihre Eltern nicht verständigen!«
Entgegen seiner Warnung hatte sie ihre Eltern in Shanghai von einer öffentlichen Telefonzelle unweit des Da-Yu-Mausoleums angerufen, wie eine einsame verlorene Touristin.
»Ich sitze den ganzen Tag allein in diesem Haus, das er mir gekauft hat, mit nichts als meinen Erinnerungen und dem Widerhall der eigenen Schritte. Ich konnte es einfach nicht länger ertragen.«
»Das Telefon Ihrer Eltern wird natürlich abgehört«, erwiderte er. »Die staatlichen Behörden wissen jetzt, dass Sie sich in Shaoxing aufhalten. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis man Sie aufstöbert. Sie müssen weg – und zwar schnell.«
»Aber wohin?«
»Egal, nur raus aus Shaoxing. Ich weiß, dass das hart für Sie ist, aber Sie müssen untertauchen. Ihnen darf nicht dasselbe passieren wie Zhou.«
»Wie lange muss ich mich noch verstecken?« Ohne eine Antwort abzuwarten, fragte sie hastig weiter: »Gibt es etwas Neues in Shanghai?«
»Wir machen Fortschritte, ja, aber …«
»Neulich sagten Sie doch, ob mir noch etwas Ungewöhnliches aufgefallen sei … an Zhou, vor dem shuanggui . Ich habe mir den Kopf zerbrochen, und mir ist da etwas eingefallen, aber ich weiß nicht, ob es wichtig ist.«
»Ja?«
»Neben dem Büro gibt es ein kleines Schlafzimmer. Er arbeitete oft bis spätabends, manchmal hat er dann dort übernachtet. An dem Abend, als immer mehr Bilder im Internet auftauchten, war er sehr aufgeregt. Da hat er mich gebeten, in diesem Schlafzimmer für ihn zu tanzen.«
»Was? Eine Parodie auf den mächtigen König von Chu?«, fragte Chen. Demnach musste Zhou klar gewesen sein, dass die Katastrophe unmittelbar bevorstand. Er hatte sich an die Geschichte vom König von Chu erinnert, der seine Lieblingskonkubine für sich tanzen ließ, bevor er in die letzte, aussichtslose Schlacht zog.
»Ja, ich habe einen Film gesehen, der auf dieser Geschichte basiert, Lebewohl, meine Konkubine hieß er, glaube ich. Ich bin keine Tänzerin, aber er ließ nicht locker, also habe ich den Loyalitätstanz für ihn getanzt. Er hat ein Mao-Lied dazu gesummt und sich eine Zigarette nach der anderen angesteckt …
Als ich dann am
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