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99 Särge: Roman (German Edition)

99 Särge: Roman (German Edition)

Titel: 99 Särge: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Xiaolong Qiu
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schließlich war der König von Chu ein Held , so lauteten die mitfühlenden Zeilen von Wu Weiye, einem Dichter aus der Qing-Dynastie.
    Wie der König von Chu hatte auch Zhou angesichts der herannahenden Katastrophe nicht aufgegeben. Die Parallele war gespenstisch, doch die Details gaben Rätsel auf.
    In der Geschichte vom König von Chu tanzte seine Lieblingskonkubine für ihn und ging dann in den Tod, um ihrem Herrn in seiner letzten Schlacht keine Last zu sein. So weit war Fang nicht gegangen, und Zhou hatte es auch nicht von ihr verlangt.
    Der König von Chu hatte gekämpft, er hatte einen Vorstoß durch die feindlichen Reihen noch für möglich gehalten und gehofft, dass im Lager ausreichend Rückendeckung bereitstand. Das musste auch Zhou geglaubt haben.
    Wieder ging Chen die Ereignisse jenes schicksalhaften Abends durch. Während Fang tanzte, summte Zhou ein Mao-Lied und zündete sich eine Zigarette an …
    Chen fragte sich, ob in der Wahl einer solchen Melodie eine Absicht verborgen lag, verwarf den Gedanken aber wieder. Vermutlich war ihm das Lied nur deshalb eingefallen, weil er es in seiner Jugend oft gehört hatte, vor allem in Verbindung mit dem Loyalitätstanz …
    Wieder einmal hatte der Oberinspektor den Faden verloren.
    Auch er hätte sich jetzt gern eine Zigarette angezündet. Er zog das Päckchen heraus, dann fiel ihm ein, dass er sein Feuerzeug bei der Kontrolle am Eingang abgegeben hatte. Egal. Dennoch schweifte sein Blick durch den Raum. Eigentlich durfte er hier nichts verändern, aber tatsächlich entdeckte er ein Feuerzeug, das neben einer Buchstütze aus Marmor auf dem Tisch lag.
    Chen war nicht sicher, ob es dasselbe war, das Zhou in jener Nacht benutzt hatte. Als Kettenraucher besaß Zhou bestimmt mehrere Feuerzeuge. Chen holte es und wog es in der Hand, nichts Besonderes, es fiel nur durch seine grellrote Farbe und die Form einer Fackel auf. Auf dem Griff war ein Mao-Zitat eingraviert: »Ein einziger Funke kann einen Flächenbrand entfachen.«
    Er betätigte das Zündrädchen. Keine Flamme. Chen versuchte es noch einmal, aber es funktionierte nicht. Vermutlich ein Zeichen dafür, dass er hier besser nicht rauchte. Chen zuckte die Schultern und ließ sich in den Drehstuhl zurücksinken.
    Geistesabwesend spielte er mit dem Feuerzeug.
    Warum hatte Zhou ein nicht funktionierendes Feuerzeug in seinem Büro?
    Da kam Chen eine Idee.
    Er sprang auf und ging, das Feuerzeug noch immer in der Hand, im Zimmer herum. Dann legte er es auf den Tisch, holte sein Schweizer Taschenmesser hervor, und mit dem Schraubenzieher gelang es ihm, den unteren Teil des roten Feuerzeugs zu entfernen.
    Als der Plastikboden wegbrach, starrte Chen ungläubig auf das Objekt im Inneren des Feuerzeugs. Darin steckte nicht der übliche Behälter mit Butangas, sondern ein Memory-Stick, dessen oberer Teil genau in den Kopf des Feuerzeugs passte.
    Endlich hielt er das fehlende Bindeglied in Händen.
    An jenem Abend hatte Zhou – wie der König von Chu – mit einer Waffe in der Hand gekämpft, die ihn vor der Vernichtung bewahren sollte. Etwas, das ihm die Hilfe von Leuten zusicherte, die mächtiger waren als er und die ihn vor dem Mahlstrom des Verderbens retten würden.
    »Wie Krebse, die zu einem Bündel zusammengebunden sind« – plötzlich fiel ihm wieder ein, was Fang damals in Shao-xing zu ihm gesagt hatte.
    Diese Redewendung ging auf die Gewohnheit der Marktverkäufer zurück, lebende Krebse mit einer Strohschnur zusammenzubinden, damit sie sich nicht davonmachten und der Kunde sie besser transportieren konnte. Aber sie wurde auch im übertragenen Sinn gebraucht und konnte dann etwas ganz anderes bedeuten. Mit den »Krebsen« waren in dem Fall Schurken gemeint, und was sie zusammenhielt, war keine Strohschnur, sondern deren gemeinsame Machenschaften oder ein gemeinsames Geheimnis. Sie mussten einander helfen, wenn sie nicht Kopf und Kragen riskieren wollten. Keiner konnte den anderen verraten, ohne sich selbst zu gefährden.
    Offenbar hatte Zhou Leuten gedroht, die in der Hierarchie über ihm standen, und angedeutet, dass die Glocke nicht für ihn allein schlagen würde. Er besaß tödliches Beweismaterial, das er an unbekanntem Ort verborgen hielt. Doch Jiang war früher als erwartet gekommen und hatte Zhou in der Kantine überrascht. In der allgemeinen Verwirrung war das Feuerzeug im Büro zurückgeblieben.
    Später im Hotel hatte Zhou dann wohl mit seiner Drohung das eigene Todesurteil besiegelt. Als er etwas

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