999 - Der letzte Wächter: Roman (German Edition)
er auch noch so frevelhaft sein, war ihm fast so lieb wie der Thron, auf dem er saß und dessen Erwerb ihn jahrzehntelang Intrigen, Allianzen und Verrat sowie hunderttausend Dukaten gekostet hatte.
»Also, es ist entschieden«, sagte er, »die Medici werden weiter warten. An dieser Stelle können wir den Botschafter eintreten lassen und ihn vertrösten, wenn er auf Rückzahlung drängt.«
Der Kardinalvikar rieb sich die Hände und schob sie langsam in seine weiten Ärmel. Er senkte nur den Kopf, um ein kleines Lächeln zu verbergen.
»Nun, Sansoni! Schläfst du?«, fragte der Papst und unterdrückte ein Lachen. »Lass den Abgesandten der Medici eintreten. Nein, warte. Sage mir erst, wer es diesmal ist.«
»Ein gewisser Jacopo Salviati, Eure Heiligkeit, und er verfügt über alle Credentialen«, antwortete der Kardinalvikar.
»Oh, belàn !«, rief Innozenz VIII., der bei jeder Gelegenheit seine genuesische Herkunft unterstreichen musste. »Oder ist er ein Cousin von Francesco?«
»Welcher Francesco, Eure Heiligkeit?«
»Du bist wirklich ein Idiot, Sansoni. Francesco Salviati, der Erzbischof von Pisa, den die Medici han criccâ , Gott hab ihn selig.«
»Criccâ? Eure Heiligkeit, ich verstehe Euch nicht, wenn Ihr so sprecht.«
»Na, der, den die Medici aufgehängt haben, weil er an der Verschwörung gegen die Familie de’ Pazzi teilgenommen hat«, antwortete der Papst unwirsch.
»Davon weiß ich nichts.«
»Du weißt nie irgendwas, Maccaccu . Aber du wirst sehen, er wird es sein. Die Salviati scheinen mittlerweile verstanden zu haben, woher der Wind weht. Lass ihn eintreten, wir sprechen ihm unser Beileid aus.«
»Sofort, Eure Heiligkeit.«
Florenz
Freitag, 15. Juli 1938
Giovanni! Hast du heute das Giornale d’Italia gelesen?«, fragte Giocomo de Mola.
»Nein, ich hatte noch keine Zeit.«
»Es ist ganz und gar unglaublich, was da geschrieben wird, sage ich dir. Auf jeden Fall hätte ich nie gedacht, dass es jemals wieder so weit mit uns kommen könnte. Hör dir das an: ›Die Bevölkerung unseres Landes ist hauptsächlich arischen Ursprungs, genau wie die italienische Kultur.‹ Und hier: ›Es wird Zeit, dass die Italiener sich frank und frei zu ihrer Rassenideologie bekennen. Die Arbeit des Regimes in Italien, das muss endlich laut und nachdrücklich gesagt werden, ist eigentlich rassistisch.‹« De Mola sah sein Gegenüber kopfschüttelnd an. »Es ist einfach unglaublich, dass das Wort Rassismus hier eine positive Bedeutung hat. Aber warte, warte, es kommt noch besser: ›Die Juden sind die einzige Volksgruppe, die sich nie assimiliert hat – letztlich, weil sie aus nicht-europäischen Rassenelementen besteht. Aus Elementen, welche sich diametral von denjenigen Faktoren unterscheiden, die zu der Entwicklung der Italiener geführt hat.‹ Weißt du, was das bedeutet?«
»Von wem ist der Artikel?«
»Es ist kein Artikel, es ist eine Art Manifest von einer nicht näher beschriebenen ›Gruppe faschistischer Gelehrter und Professoren der italienischen Universitäten‹. Vermutlich ist es auf Mussolinis Mist gewachsen, denn es ist nicht unterschrieben.«
»Wenn ich ganz ehrlich bin, bin ich froh, kein Jude zu sein.«
»Ich nicht!«, rief de Mola laut aus. »Heute wäre ich wirklich gern einer. Ich schäme mich, Italiener zu sein! Eigentlich müsste ich einen Leserbrief an das Giornale d’Italia schicken und die Veröffentlichung erzwingen!«
Giacomo de Mola erweckte nicht den Eindruck, gefährlich zu sein. Er war groß und hager und trug sein bereits angegrautes Haar in einem kurzen Bürstenschnitt. Die goldene Brille, die auf einer kleinen, beinahe femininen Nase saß, erschien fragil – in einer Zeit, in der der Schlagstock das Regiment hatte. In seinem schlanken und zähen Körper versteckte sich trotzdem ein Dämon. Obwohl de Mola die vierzig bereits fast zur Hälfte überschritten hatte, traten bei seinen seltenen Wutausbrüchen oder in Gefahrensituationen seine schier unglaubliche körperliche Stärke und seine Gewandtheit hervor – Eigenschaften, die ihn zu einem gefährlichen Gegner beim Fechtkampf machten. Seinerzeit hatte er es mit dem Degen bis in die olympische Fechtmannschaft gebracht und in Stockholm von der Reservebank aus dem Einzelsieg seines Freundes Nedo Nadi beigewohnt.
»An deiner Stelle würde ich das nicht tun. Du wärst dann nämlich auf einen Schlag bekannt wie ein bunter Hund, und mit dem schönen freien Leben und den Annehmlichkeiten der Anonymität wäre es
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