999 - Der letzte Wächter: Roman (German Edition)
italienisch.«
»Selbstverständlich. Kann ich sprechen?«
»Natürlich«, antwortete der deutsche Botschafter mit einem leicht kehligen Akzent, »dies ist eine sichere Leitung.«
* * *
Die wöchentlichen Treffen in der Georgofili-Akademie waren nur für einen intimen, sorgfältig ausgewählten Gelehrtenkreis bestimmt, weil die Gesprächsthemen nicht regelkonform waren: In der erlesenen Runde erörterte man nämlich nicht die besten Methoden, Olivenparasiten auszurotten, oder diskutierte darüber, ob der philippinische Jasmin resistenter als der chinesische sei, geschweige denn über die Reitkünste der toskanischen Maremma-Gauchos. Man sprach vielmehr frei über Religion, Philosophie, Wissenschaft und Politik – ohne Angst vor Zensur oder Sanktionen haben zu müssen. Wer in die eingeschworene Gemeinschaft der Denker und Gelehrten aufgenommen werden wollte, musste außergewöhnliche Fähigkeiten vorweisen können und bedingungslos an Ideale wie Frieden, Freiheit, Gerechtigkeit und Brüderlichkeit glauben. Eine einzige Gegenstimme bei der Abstimmung unter den Mitgliedern genügte, um dem Bewerber die Aufnahme zu verweigern, und jedes Votum bedurfte einer kurzen Ausführung zur Begründung. Bestand innerhalb der Gemeinschaft Einigkeit darüber, dass der Kandidat geeignet sei, wurde dieser zwar diskret, jedoch nur stufenweise über seine Chancen und die inneren Zusammenhänge des Vereins informiert. Erst wenn die Gemeinschaft sicher sein konnte, dass der Bewerber echtes Interesse hegte, weihte sie diesen in die Ziele und Zwecke des Vereins ein. Nach dieser ganzen Prozedur wurde er dann eingeführt und allen vorgestellt.
Aufgrund der Art und Weise, wie ihre Initiation geschehen war, dachten zwar viele, dass sie in eine geheime Freimaurerloge aufgenommen würden, aber die wenigsten waren enttäuscht, wenn sie herausfanden, dass ihr Irrtum sich bewahrheitete.
Innerhalb der Gemeinschaft gab es noch eine weitere Position, um die sich ein Mitglied bewerben konnte: Ein auf wenige Personen beschränkter geheimer Zirkel kreiste um de Mola und hatte die Aufgabe, ihn zu beschützen: Seit Jahrhunderten trug diese Gruppe den Namen Omega.
Giacomo hatte sich das Giornale d’Italia mitgenommen, um über den abwegigen Rassenartikel zu diskutieren. Er war überzeugt davon, dass es vordringliche Aufgabe der Intellektuellen und Gelehrten des Landes war, die Verbreitung dieser idiotischen Thesen zu verhindern. Dass es ein Kampf gegen Windmühlen war, wusste Giacomo, denn das faschistische Regime förderte genau diese Gerüchte.
Im Gegensatz zu den vergleichsweise harmlosen Bestrebungen der Italiener, ihre Sprache frei von Lehnwörtern zu halten, hielt er die giftigen, eindeutig von den Deutschen inspirierten Hasstiraden gegen die nichtarischen Rassen für äußerst gefährlich. Giacomo war klar, dass er sich mit dieser Meinung nicht zu sehr exponieren durfte. Wenn die Regierung ihn ins Visier nähme, wäre die Mission gefährdet. Nach fast fünf Jahrhunderten des Wartens und sorgfältigster Geheimhaltung konnte er sich das nicht leisten.
Außerdem war er der Hüter des Buches. Dieser vornehmen Aufgabe hatte er sein ganzes Leben gewidmet, wie alle de Molas vor ihm und wie all die de Molas, die nach ihm kommen würden: Seine Familie hütete das Geheimnis des Buches seit nahezu fünfhundert Jahren und vererbte das Wissen zu gegebener Zeit an den auserkorenen Nachfolger. Er war der letzte der Hüter – sein Nachfolger würde Giovanni werden, unmittelbar nach seiner Adoption. Eines fernen Tages, wenn die Zeit reif wäre, würden alle Menschen – ungeachtet ihrer Religion, ihres Geschlechts, ihrer sozialen Herkunft, ihrer politischen Meinung oder ihrer Staatsangehörigkeit – von dem Buch erfahren. Und dann hätte sich der Traum des Grafen Mirandola erfüllt.
Vor einigen Jahren, als der Faschismus noch soziale Ideen vertrat und der Nationalsozialismus sein wahres Gesicht noch nicht gezeigt hatte, erschien dies beinahe möglich. Damals hatte Giacomo für sich und die Söhne seiner Söhne gehofft, dass sich sein Stamm endlich von der Bürde des Buches befreien können würde. Doch obwohl die Welt gerade die Schrecken des Weltkrieges überlebt hatte, schien sie dieser Tage von einer neuen Heimsuchung bedroht. Und so musste er einmal mehr auf der Hut sein, sehr gut und vor allem geduldig aufpassen. Er musste das Buch vor den alten und neuen Dämonen verbergen, die sich die antike Macht wieder zurückerobern wollten – notfalls mit
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