999 - Der letzte Wächter: Roman (German Edition)
unerbittliche Sittenwächter. Ganz Florenz fürchtete sich vor ihm, sogar der Mächtige der Mächtigen: Lorenzo der Prächtige. Hätte Meister Savonarola das Treiben dieser Nacht gesehen, hätte er sie mit vernichtenden Worten angegriffen und sie in eine Reihe mit dem korrupten römischen Adel gestellt. Damit hätte er gar nicht so falsch gelegen, dachte Giovanni und seufzte. So gerne er sich der materiellen und moralischen Verführungen auch erwehrt hätte – er hatte keine andere Wahl, als der Einladung Folge zu leisten.
Nun war die Nacht jedoch so weit fortgeschritten, dass er getrost gehen konnte, ohne jemanden zu brüskieren. Erleichtert ließ er sich von einem Pagen seine Kappe und seinen Samtumhang bringen und versteckte unter seinem prächtigen Wams die schwere Goldkette mit den Insignien seiner Familie. Es wäre nicht ratsam gewesen, zu dieser späten Stunde mit zur Schau getragenem Gold und Geschmeide unterwegs zu sein. Zu den umherstreifenden Briganten mit ihren dreischneidigen Dolchen war Rom noch mit einer anderen Seuche infiziert: den Horden spanischer Wegelagerer, die ihrem Beschützer, dem spanischen Kardinal Borja gefolgt waren und nun hofften, dass von dem Reichtum Roms auch etwas für sie abfallen würde. Sie mordeten furchtlos und lieferten sich mit anderen Banden wilde Scharmützel. Wer zufällig in eine solche Auseinandersetzung hineingeriet, war verloren.
Keiner schien die diskrete Flucht des Grafen zu bemerken, denn alle lauschten dem vortrefflichen Lauro de Lorenzo. Er trug eine neue Komposition vor –, möglicherweise sogar aus der Feder des Prächtigen selbst, munkelte man –, die in der Anzüglichkeit ihrer Verse von Gelächter und vulgären Sprüchen begleitet wurde.
Giovanni Pico war froh, dass er die alten und neuen Tänze hinter sich gelassen hatte: Den Leoncello -Tanz, die Kreistänze für zwei und vier Paare und allen voran die Pinzoccara oder den äußerst anstrengenden Saltarello , der einen unweigerlich zum Schwitzen brachte und dadurch die Verbreitung überaus abstoßender Gerüche begünstigte. Er ging Richtung Piazza della Giudea, ihm voraus sein treuer Diener. Dort bog er zum Monte Cenci ab, wo sich die Offizin von Meister Eucharius Silber Franck befand, dem bekanntesten Buchdrucker Roms. Obwohl es schon sehr spät war, zog Giovanni ohne zu zögern an der Glocke und wartete geduldig auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Silber Franck schlief wahrscheinlich, aber er war an seine überraschenden Besuche gewöhnt. Andererseits war Giovanni Pico nicht nur sein großer Bewunderer, sondern vor allem ein sehr guter Kunde.
Im Schutz der Dunkelheit dachte der edle Mirandola über die Schicksalsschläge nach, die den Buchdrucker nach Rom verschlagen hatten. Obwohl er konvertiert war, würde er in den Augen der Christenheit immer Jude bleiben, und das wäre ihm früher oder später in seiner Heimat zum Verhängnis geworden. In Deutschland tönten viele neue Prediger, entschlossen wie Savonarola, aber ohne dessen Format, gegen alle Feinde der Christen: allen voran gegen die ausschweifende und korrupte römische Kirche, aber auch gegen die Juden, die Muselmanen und gegen alle, die sich von den christlichen Tugenden entfernt hatten. Denn nur diese garantierten einen Platz im Paradies.
In einem schwachen Moment hatte Eucharius ihm einmal erzählt, dass sein Bruder, ein bekannter Medicus, mit seiner Familie vor dieser Gefahr nach Sevilla geflohen war, wo bis vor wenigen Jahren noch eine blühende jüdische Gemeinde existiert hatte. Leider war er den Mannen des streng katholischen Königs Ferdinand in die Hände gefallen und von Dominikanermönchen im Dienste des allmächtigen Großinquisitors Tomás de Torquemada grausam gefoltert worden.
Giovanni hatte seinen Freund Savonarola öfter spöttisch gefragt, wie er Mitglied im selben Orden sein könnte wie der spanische Großinquisitor. Und Savonarola gab zur Antwort, dass ihre Ziele die gleichen seien, auch wenn die Methoden gegensätzlicher nicht sein könnten, und so verschob sich die Diskussion regelmäßig von der religiösen auf die philosophische Ebene.
Der Buchdrucker Eucharius von Wilzburg hatte mehr Glück gehabt. Trotz der politischen Turbolenzen und der andauernden Zwistigkeiten unter den Mächtigen hatte er sich für Italien entschieden. Seinen Lehrjahren in der Werkstatt Gutenbergs verdankte er, dass er in einem politischen Klima von Erneuerung und Freiheit unverhofft sein Glück gefunden hatte. Er traute dem Frieden
Weitere Kostenlose Bücher