999 - Der letzte Wächter: Roman (German Edition)
Bücher, die er so liebte, aber sein phänomenales Gedächtnis hatte ihn, wie so oft, auch diesmal nicht im Stich gelassen. Er war in seiner Erinnerung zu den Anfängen seiner Studien gewandert, hatte seine Vorstudien rekapituliert, die ihn zu den Thesen geführt hatten, und hatte seine Gedanken auf den Weg der Magie gelenkt. Während seiner erzwungenen Ruhephasen stellte er sich vor – ohne jedoch seinen Ideen untreu zu werden –, ein Magier zu sein, der die Gesetze der Natur verstehen gelernt hatte und daraus Nutzen zu ziehen verstand. Was ihm jedoch nicht gelang, war, die Zeit zu vergessen, und so fühlte er jede einzelne Stunde quälend langsam verrinnen.
Als er am nächsten Tag – einen Tag vor der Olivenernte – während eines Gewitters aus dem Fenster schaute, bemerkte er, wie unter Fanfarenklängen eine kaiserliche Postille eintraf. Erst jetzt bemerkte er, dass das Lilienwappen von Karl VIII. auf azurblauem Grund an jedem Fenster hing, auch an den seinen. Er blickte auf die untergehende Sonne. Es wurde Zeit für das abendliche Mahl. Normalerweise überbrachten die Diener seinem Pagen die Mahlzeit mit reichlich Wasser und Wein, der sie Giovanni dann kredenzte. Am heutigen Abend war jedoch alles anders. Statt der Diener betrat ein hochgewachsener Mann in einem blauen, reich bestickten Überrock den Raum. Seine breite Stirn unterstrich eine beginnende Glatze. Seine breiten, vollen Lippen presste er zusammen und fixierte Giovanni mit seinen leicht hervorstehenden Augen. Der Page verneigte sich tief vor ihm. Der Fremde bedeutete diesem jedoch, sich zu entfernen, und blieb vor Giovanni stehen. Seine Haltung deutete auf eine edle Herkunft. Offensichtlich erwartete er, dass Giovanni ihm seine Ehrerbietung erwies.
»Ich hoffe, Ihr verzeiht mir eines Tages, Graf. Und ich hoffe, dass es Euch in dieser Zeit des Arrests an nichts gemangelt hat.«
»Die Freiheit ist ein wertvolles Gut. Über den Rest haben Euch Eure Spione gewiss bereits alles zugetragen, nehme ich an; so wie ich auch glaube, mich in der Gegenwart des Herzogs Philipp von Bresse zu befinden.«
»Ich bin ein Mann der Waffen, Graf, und kein Studierter wie Ihr«, erwiderte der Herzog. In seinem Tonfall schwang Geringschätzung mit.
»Mein Leben lang habe ich mir alles, was ich besitze, hart erkämpfen müssen. Ich kenne den Kerker – und glaubt mir, er hat keinerlei Ähnlichkeit mit dem, über den Ihr lamentiert.«
Weil er merkte, dass es keinen Sinn mehr hatte, mit der Polemik fortzufahren, deutete Giovanni eine Verbeugung an und schwieg.
»Ich habe ein einfaches Mahl vorbereiten lassen, aber aus Gründen der Vertraulichkeit werden wir es hier oben einnehmen – wenn es Euch keinen Verdruss bereitet. Bei Tisch werde ich Euch einige Dinge erklären und, wenn es mir möglich ist, all Eure Fragen beantworten.«
Auf seinen Wink hin wurde innerhalb weniger Minuten das Abendessen aufgetragen. Es unterschied sich nicht allzu sehr von dem, das er normalerweise zu sich nahm: Wenigstens gab sich der Herzog nicht der Völlerei hin, dachte Giovanni, was er auch daran sah, dass der Herzog sein Mahl hastig beendete und seine Diener sofort abtragen ließ. Auf dem Tisch blieb eine Karaffe mit einem trüben, dickflüssigen Wein stehen, an welcher der Herzog von Bresse sich beherzter gütlich tat.
»Ihr seid ein ehrgeiziger Mann, Graf von Mirandola, und ich sage Euch frei heraus, dass Ihr viele Feinde und ebenso viele Freunde habt«, sagte er, nachdem er einen großen Schluck genommen hatte.
»Ich nehme an, dass die Zahl meiner Feinde größer ist als die meiner Freunde. Und Ihr? Zu welcher Gruppe gehört Ihr?«
»Weder zu der einen noch zu der anderen. Ihr seid mir gleichgültig, wenn es das ist, was Ihr zu wissen wünscht. Nichtsdestotrotz ist das, was ich tat, in Eurem Interesse – für den Moment jedenfalls.«
Giovanni verstand nicht, entschied sich aber dafür, versöhnlich gestimmt zu bleiben. Philipp von Bresse war der Einzige, der ihm die Informationen geben konnte, die er brauchte.
»Bei dem Mann, den wir während des kurzen Scharmützels im Wald Gottes in Gefangenschaft nahmen, handelt es sich wahrhaftig um Papst Innozenz’ Sohn, aber das wusstet Ihr bereits. Sein Versuch, Euch zu fangen, hat mich einige meiner besten Männer gekostet.«
»Für meine Rettung möchte ich Euch meinen Dank aussprechen.«
»Ihr müsst mir noch viel mehr aussprechen, dazu aber später. Der Papst hat ein überaus großzügiges Lösegeld für seinen Sohn gezahlt und
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