999 - Der letzte Wächter: Roman (German Edition)
er nichts dagegen; ansonsten würde er eben den stinkenden Kadaver nach Rom karren. Fränzchen wartete noch einen Moment und stieß dann einen lauten Pfiff aus: Von beiden Seiten des Weges ging aus dem Dickicht eine Wolke von Pfeilen nieder. Einige wurden von Ästen oder Büschen abgefangen, aber andere trafen ihr Ziel. Gérard di Rochefort schrie seinen Männern zu, die Formation aufzulösen und sich in Sicherheit zu bringen. Die Männer klammerten sich an die Mähnen ihrer Rösser und galoppierten aus der Schusslinie. Sie waren allesamt gut ausgebildete Soldaten, die genau wussten, wie sie sich im Falle eines Angriffs zu verhalten hatten. Die Reiter am Ende der Kolonne hatte es am schlimmsten erwischt. Viele waren zu Boden gestürzt, und noch bevor sie wieder auf ihre Pferde steigen konnten, rief Fränzchen bereits zum Angriff. Sofort stürzten zahllose Kämpfer aus der Deckung und fielen über die Überlebenden her.
Fränzchen hielt sich hinter seinen Männern zurück und wartete auf seinen großen Moment. Plötzlich vernahm er einen Hornstoß aus den Reihen der Angegriffenen. Kurze Zeit später ertönte der Hornstoß erneut – diesmal jedoch weiter entfernt und hinter seinem Rücken. Die Erde begann zu beben und Fränzchen mit ihr. Eine kompakte Reiterformation kam im Sturmgalopp und mit eingehängten Lanzen auf ihn zugestürmt.
Rochefort hatte sein Bataillon geteilt, so wie es die Kriegshandbücher lehrten, die Fränzchen aber nie gelesen hatte. Die erste Gruppe des Bataillons hatte Schwierigkeiten, sich gegen den heftigen Angriff zu behaupten, aber der vertraute Hornstoß, der nun zum dritten Mal – und zwar diesmal ganz aus der Nähe – erklang, kam unerbittlich näher. Fränzchens Männer reagierten zu spät. Sie versuchten noch, sich im Kreis aufzustellen, um sich des Angriffs von beiden Fronten zu erwehren, doch es war bereits zu spät: Der Kampf dauerte nicht lange. Die letzten fünf Überlebenden warfen ihre Waffen weg und baten um Gnade. Rochefort gewährte sie ihnen jedoch nicht, denn wer aus dem Hinterhalt angriff, verdiente keine Schonung. Als der Kapitän die Gefallenen zählte, erschien einer seiner Ritter mit einem Flüchtigen, den er an den Haaren mit sich schleifte. Wundersamerweise war dieser weder verletzt, noch blutete er. Obwohl seine Kleider vor Schmutz nur so strotzten, konnte man erkennen, dass sie äußerst kostbar waren. Der Ritter stieß den Fremden neben den Toten auf die Knie. Rochefort hielt die Seinen zurück, die den Gefangenen mit ihren Schwertspitzen malträtieren wollten, und näherte sich ihm. Als er vor ihm stand, riss der Kapitän seinen Kopf hoch und hielt ihm sein Schwert an die Kehle. Als ihre Blicke sich kreuzten, las Rochefort in Cibos Augen nur unendliche Angst.
»Wer seid Ihr? Und warum habt Ihr nicht an der Seite Eurer Mannen gekämpft? Ihr seid ein Feigling und verdient zu sterben«, sagte der Kapitän verächtlich.
»Gnade, edler Ritter«, flüsterte Fränzchen zitternd, »tötet mich nicht. Ich bin viel wert, wenn Ihr Lösegeld einfordern wollt.«
Rochefort spuckte ihm ins Gesicht, doch der verängstigte Cibo machte keine Anstalten, es abzuwischen.
»Einer wie Ihr ist nichts wert, denn er lässt seine Gefährten im Kampf sterben, ohne mit eigener Hand zu kämpfen.«
»Nein, das stimmt nicht«, wimmerte Fränzchen. »Ich bin viel wert. Ich sage Euch, wer ich bin. Heute ist Euer Glückstag, edler Herr. Mein Name lautet Fränzchen Cibo, und ich bin der Sohn seiner Heiligkeit, des Papstes.«
Die Männer um Rochefort brachen in lautes Gelächter aus, und in kurzer Zeit machten die Worte des Gefangenen in der ganzen Truppe die Runde. Dem Kapitän gefiel diese Eröffnung jedoch ganz und gar nicht, denn sie erschien ihm wie eine Art Gotteslästerung. Mit der behandschuhten Faust schlug er Fränzchen so hart ins Gesicht, dass dieser blutend nach hinten kippte.
Giovanni Pico hatte die Szene von weitem beobachtet, ohne zu verstehen, worum es ging. Auf ein Zeichen Rocheforts bat ihn der Vizekommandant, ihm zu folgen.
»Graf«, sagte der Kapitän, »ich frage Euch: Kennt Ihr diesen Mann? Er sieht wie der Anführer der Banditen aus, die uns angegriffen haben.«
Fränzchen Cibo kniete vor Giovanni Pico della Mirandola. Ihre Blicke trafen sich. Der Erste bebte vor Wut und Angst, und der Zweite fragte sich, welch absurdes Schachspiel das Schicksal mit ihm spielte. Wer war er eigentlich? Giovanni hatte immer geglaubt, der Turm zu sein, der leuchtet – aber vielleicht
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