999 - Der letzte Wächter: Roman (German Edition)
den Habsburgern und dem Papst genauso wenig wie die guten Nachrichten über den Gesundheitszustand Seiner Heiligkeit. Dieser Syphilitiker hatte das Leben dieses unsäglichen Fränzchens gegen das von Graf Mirandola getauscht. Lorenzo de’ Medici hatte ihn wie einen dummen Jungen übervorteilt.
Sein einziger Trost waren all die Hexen, Kräuterfrauen und Zigeunerinnen. Nicht nur aus Italien, sondern auch aus Spanien und Deutschland erreichten ihn tröstliche Nachrichten. Je mehr sie von ihnen verurteilten, folterten und auf den Scheiterhaufen verbrannten, desto mehr neue von ihnen wurden entdeckt. In Deutschland hatten die fleißigen Drucker mehr als dreißigtausend Kopien des Malleus Maleficarum gedruckt. In jedem Kloster wetteiferten Richter und Inquisitoren darum, das Böse möglichst früh aufzudecken, um es an der Wurzel auszureißen, bevor es zu wuchern begann. Es konnte in jeder weiblichen Ritze lauern und sich von dort aus im Verborgenen überall verbreiten. Allein im Val-di-Fiemme-Tal waren über dreihundert Seelen durch das reinigende Feuer befreit worden. An diesen Orten war ein geheimnisvolles Weib, Bon Foga genannt, entdeckt worden, die, wie man sagte, die Gemahlin des Dämons war und gemeinsam mit ihrem Gemahl sogar einige in Klausur lebende Nonnen umgarnt und vom rechten Weg abgebracht hatte. In zwei Klöstern waren einzelne Satansaustreibungen nicht ausreichend gewesen – sie mussten bis auf ihre Grundfesten durch das reinigende Feuer zerstört werden.
Der Kardinal hatte diesen Eifer ausdrücklich begrüßt. Das Weib Bon Foga, hatte er den Seinen gesagt, sei deshalb so mächtig gewesen, weil sie das Ebenbild der Großen Mutter war, deren Name niemals ausgesprochen werden durfte. So konnte er also mit Zufriedenheit sein Werk betrachten, denn in weniger als einem Jahr hatten sich die Todesurteile und die darauf folgenden Verbrennungen auf dem Scheiterhaufen mehr als verdoppelt. Der Kardinal wusste nur allzu gut, dass viele der Priester über das notwendige Maß der Untersuchungen und Foltermethoden weit hinausgegangen waren und dabei die verbotensten Freuden und Genüsse erfahren hatten. Aber um das Böse bekämpfen zu können, sagte sich Borgia, muss man es auch kennen.
Während er sich seine Finger ableckte, betrachtete er seine Gespielin, die mit ihrem jugendlichen Appetit eine Fleischsuppe genoss. Gleich würde er diesen Geschmack auf ihren Lippen schmecken. Zum Teufel mit Innozenz, der Mutter, Giovanni Pico und allem anderen! Damit würde er sich morgen wieder beschäftigen.
Florenz
Donnerstag, 10. November 1938
Jemand klopfte an Zugels Tür. Sofort griff dieser nach seiner Luger und positionierte sich neben dem Türrahmen.
»Wer ist da?«
»Der Portier. Ich habe eine Nachricht für Sie.«
Er erkannte die Stimme, versteckte die Pistole hinter dem Rücken zwischen Gürtel und Hose und öffnete die Tür einen Spaltbreit.
»Ein Herr hat eine Nachricht für Sie hinterlassen.«
Zugel erwartete, dass der Portier ihm die Nachricht aushändigte, dieser aber hielt die Arme weiter hinter dem Rücken verschränkt. Er hätte ihm ohne Probleme mit zwei Fingern den Kehlkopf zerquetschen können, aber stattdessen nahm er einen 10-Lire-Schein und gab dem Mann sein Trinkgeld. Daraufhin ging der Austausch schnell vonstatten, und Zugel schloss die Tür. Schon die ersten Worte ließen ihn gierig weiterlesen. Als er geendet hatte, lächelte er, zündete sich eine Zigarette an und verbrannte die Nachricht mit der Flamme seines Streichholzes.
Der Bahnhof, wo sich Busse, Straßenbahnen und Züge kreuzten, wimmelte vor Pendlern, die aus den Fabriken geströmt kamen. Sie grüßten sich und gingen ihrer Wege. Die meisten warteten auf die Straßenbahnen, die sie zu den Mietskasernen bringen würden, die vom Regime gebaut worden waren, um der neuen Arbeiterklasse ein Dach über dem Kopf zu geben. Der Treffpunkt war gut gewählt, auch für ihn – eine umsichtige Wahl. Ein Mann mit tief ins Gesicht gezogenem Hut stand unter einer Laterne und beobachtete ihn. Mit den Händen in den Taschen – ein schlechtes Zeichen.
»Es ist kalt heute, finden Sie nicht auch?«
Mit einem Ruck drehte sich Zugel um. Der elegante Herr mittleren Alters tippte zum Gruß an seinen Hut. Zugel schaute ihn fragend an. Verdammt, das war nicht das Codewort. Er erwiderte den Gruß, und der andere ging davon. Ein Fahrrad kam in Zugels Richtung. Der Radfahrer fuhr zwischen der Menge im Zickzack auf ihn zu. Zugel spannte alle Muskeln an,
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