999 - Der letzte Wächter: Roman (German Edition)
»außerdem wachsen die Rücklagen stetig. Sie reichen für die nächsten zehn Generationen.«
»Niemand behauptet etwas anderes«, beschwichtigte ihn Remiel, »ich wollte doch nur sagen …«
»Liebe Engel …«, unterbrach Gabriel die beiden.
Er sprach nach den Regeln des Protokolls, um seinen Worten mehr Autorität zu verleihen; immerhin bekleidete er noch für drei volle Monate das auf drei Jahre festgelegte Amt des primus inter pares . Am Ende des Jahres würde er das Amt an Raphael übergeben und erst in 18 Jahren wieder an der Reihe sein, doch er bezweifelte, dass ihm sein Schicksal noch einmal vergönnte, dieses Amt zu bekleiden.
»Wir alle dienen dem Buch, nicht mehr oder weniger als Giacomo. Und zu unserem Glück haben wir diese kleinen Differenzen untereinander, weil unsere Entscheidungen dadurch umso mehr die Früchte umsichtiger Einschätzungen sind. Omega existiert gerade deshalb, und die Tatsache, dass es uns seit drei Jahrhunderten gibt, sollte uns alle mit Stolz erfüllen …«
»In zwei Jahren werden wir unser 300-jähriges Bestehen feiern.« Michael schlug sich mit den Händen auf die Schenkel. Er war der Jüngste der Gruppe. Er trug den Namen Michael – ›Engel mit dem Feuerschwert‹ –, und dieser Name begeisterte ihn seit seiner Initiation, die nach dem Tod des letzten Michaels gerade einmal drei Jahre zurücklag.
»Schade, dass wir kein Fest veranstalten können«, fuhr er fort. Sein unbekümmertes Lächeln steckte die anderen an und vertrieb jede Spur von Anspannung innerhalb des Omega-Kreises.
»Ich denke, jemand von uns sollte sich in der Abendmesse sehen lassen«, sagte Gabriel, »unsere Frauen werden schon auf uns warten.«
»Darf ich eine Frage stellen?«
»Alles, was du willst, Uriel« antwortete ihm Gabriel. »Ich habe es nicht eilig.«
»Ich bin stolz, seit acht Jahren bei Omega zu sein, und deine Worte haben mich an etwas erinnert, das mir ab und zu in den Sinn kommt.«
Uriels Gedankengänge waren oft verschlungen, gaben aber nicht selten Anlass zu interessanten Diskussionen.
»Warum hat Giacomo nie geheiratet?«
Die Frage blieb lange im Raum stehen. Blicke kreuzten sich – doch niemand war in der Lage, Uriel darauf eine Antwort zu geben. Schließlich unterbrach Gabriel die Stille. Selbst die unschuldigsten Fragen konnten wie Schwerthiebe sein, wenn sie unbeantwortet blieben.
»Ich weiß es nicht genau, aber ich glaube, ihm ist das gleiche wie dem Grafen passiert. Wenn du einmal die Frau deines Lebens gefunden hast, und sie wird dir genommen, ist es nahezu unmöglich, eine neue Liebe zu finden. Aber was das Buch betrifft«, Gabriels Ton wurde ungezwungener, »glaube ich, dass Giacomos Lösung das Fehlen eines direkten, also blutsverwandten Nachfolgers auf das Vortrefflichste regelt.«
Im Abstand von fünf Minuten entfernten sich die einzelnen Mitglieder der Runde vom Treffpunkt. Sie gingen in alphabetischer Reihenfolge: Zuerst Michael, dann Raphael, Raguel, Ramiel, Uriel und Zadkiel. Sie nannten sich nach den sieben Erzengeln und teilten sich die Aufgabe, Giacomo, den Hüter des Buches, zu beschützen.
Als Letzter verließ Gabriel den Raum in der Akademie der Georgofili. Sorgsam verschloss er die Tür hinter sich.
Draußen wurde er von einem Platzregen überrascht und suchte Schutz unter den Säulengängen der Mercanti-Arkaden. Dabei musste er sich eng an einigen Familien deutscher Soldaten vorbeidrängen. Gerne hätte er das vermieden, aber diese Wassermengen hätten selbst einen Engel am Fliegen gehindert.
Marciano, Val di Siena
Dienstag, 2.Mai 1486
Die frühmorgendliche Stille wurde durch das laute Quietschen des Riegels unterbrochen. Danach war kein Geräusch mehr zu hören.
Vorsichtig ging Giovanni zur Tür. Sie stand offen. Er stieg die steile Holztreppe hinab, die er wenige Stunden zuvor freihändig mit auf dem Rücken gefesselten Armen bewältigt hatte, und trat ins Freie. Ein fertig gesatteltes Pferd schien ihn zu erwarten, ein prachtvolles Salernitanisches Halbblut, robust und muskulös, mit dichter Mähne und weiten Nüstern, aus denen der Atem dampfte. In seinen großen lebhaften Augen, in denen sich die erste Morgenröte und die letzten Sterne der Nacht widerspiegelten, erkannte Giovanni Angst und Aufregung zugleich. Sanft und ohne Eile streichelte er den Hals des Tieres, und als er dessen Vertrauen spürte, stieg er in den Sattel. Alle Tore waren geöffnet, auch das Barbacane-Tor. Eilig verließ Giovanni Pico Marciano und galoppierte zur
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