999 - Der letzte Wächter: Roman (German Edition)
geballten Fäusten inne und starrte auf Giovanni.
Die beiden Männer sahen sich lange an, aber in ihren Augen spiegelte sich keine Kampfeslust. Giuliano hatte den Eindruck, die Gedanken des Grafen Mirandola lesen zu können, und dieser spürte dasselbe. Er ließ die Arme fallen und wandte sich an seine Frau.
»Gehen wir jetzt. Ich bringe Euch zurück nach Hause«, sagte er beinahe sanft.
»Ich weiß«, sagte Margherita ernst.
Giuliano beobachtete sie nicht beim Anziehen, und als sie fertig war, bot er ihr seinen Arm, um sie die Treppe hinunterzugeleiten.
Ulrich stieg die Treppe hinauf und betrat das Zimmer, nahm die prächtigen Kleider des Grafen, warf sie ungelenk auf das Bett und bedeutete ihm mit einer Geste, sich schnell anzuziehen.
»Ihr werdet erwartet, edler Mirandola«, sagte er höhnisch, »und leider seid Ihr gezwungen, mir zu folgen.«
Giovanni zog sich unter den Blicken Ulrichs ohne Eile an und wehrte sich nicht, als dieser ihm mit einem robusten Lederriemen die Hände fesselte.
Die Männer des Söldners halfen ihm auf ein Pferd, und nach einem kurzen Ritt erreichte er, von fünf Männern und Ulrich von Bern begleitet, die Mauern von Marciano. Sie ritten durch den Barbacane-Aufgang auf den Waffenplatz. Dort stiegen sie von den Pferden. Zwei Wächter, die die Farben von Siena trugen, nahmen Giovanni in Empfang und führten ihn in den Festungsturm. Die letzte große Tür, die sich ganz oben befand, führte in eine große Arrestzelle. Wortlos wurde er hineingeleitet und alleine gelassen; er hörte, wie die Tür hinter seinem Rücken zufiel und verriegelt wurde.
Giovanni verbrachte die Nacht ohne Schlaf und betrachtete durch ein enges vergittertes Fenster den Sternenhimmel. Der Rosenduft, der von unten emporstieg, war der Duft des Liebesbandes, das er mit Margherita geknüpft hatte. Tief in seinem Inneren wusste Giovanni – und das mit absoluter Gewissheit –, dass Margherita die letzte Frau in seinem Leben gewesen war. Mit ihr hatte er den schöpferischen Akt der wahren Liebe erlebt, der sie zusammengeschweißt hatte und der sie für immer verband.
Florenz
Sonntag, 10. Juli 1938
Jeder der sieben Männer ließ eine kleine Kugel in den Samtbeutel gleiten. Als die Runde beendet war, holte einer von ihnen die Kugeln wieder heraus und reihte sie vor sich auf.
»Fünf weiße und zwei schwarze«, stellte er fest. »Omega hat entschieden. Michael, könntest du bitte die Fensterläden öffnen?«
Ein Hitzeschwall, den die Schatten spendenden Fensterläden bisher ferngehalten hatten, ergoss sich über sie, und die Männer wischten sich unwillkürlich den Schweiß von der Stirn. Die Feuchtigkeit stand im Raum und kündigte mit kleinen Luftwirbeln auf dem Boden ein Gewitter an. Michael steckte den Kopf aus dem Fenster und spähte über die Dächer: über den schmalen Himmelsstreifen, den er sehen konnte, flog ein Schwarm Tauben, der wohl von der Piazza del Duomo kam. In diesem Moment ertönten die Glocken des Giotto-Kirchturms, um die Abendmesse einzuläuten.
»So wie immer, Gabriel?«, fragte Michael und setzte sich wieder.
»Wenn keiner von euch einen besseren Vorschlag hat, würde ich sagen, ja. Warum sollten wir das System ändern – wenigstens solange die Schweiz neutral und sicher bleibt. Als Verwendungszweck können wir ohne weiteres verschiedene Beratungsleistungen angeben. Das würde bei einer Routineprüfung keine Aufmerksamkeit erregen.«
»Aber warum müssen wir noch eine Überweisung machen? Giacomo hat Bilanzen vorgelegt, die belegen, dass die Bücherei floriert und keine Zuschüsse benötigt. Außerdem hat er keine zusätzlichen Mittel verlangt.«
Gabriel faltete die Hände, zog die Augenbrauen hoch und schaute über seine Brillenränder hinweg. Nur seine Augen lächelten, als er dachte, dass der Name Remiel ganz besonders gut zu seinem Gesprächspartner passte. Remiel, der Erzengel der Vergeltung, schleudert seine Blitze gegen alles und jeden – dabei ist aber niemand treuer und aufrichtiger als er.
»Giacomo verwaltet das Geschäft sehr gut und würde nur etwas von uns verlangen, wenn er dazu gezwungen ist. Aber du weißt auch, wie wichtig es ist, dass er im Bedarfsfall kurzfristig über gewisse Summen verfügen kann.«
»Das Geld darf nur für einen einzigen Zweck verwendet werden«, stellte Remiel richtig, »und zwar um die Sicherheit des Buches über den Lauf der Zeit hinweg zu gewährleisten.«
»Und genau das tut Giacomo doch schon zeit seines Lebens«, warf Raphael ein,
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